Gegenseitigkeit
Es ist früh am Morgen und wie so oft wälze ich mich schon seit halb
vier im Bett hin und her und kann nicht mehr schlafen. Dafür, dass ich noch auf
der Uhr gesehen habe, wie der neue Tag angebrochen ist, war die Nacht wieder
reichlich kurz.
Zwar bemühe ich mich unter der Woche immer um 22 Uhr im Bett zu sein, aber mit den
Schlafstörungen werden die Nächte trotzdem nicht länger, als an meinem alten
Wohnort.
Es ist dunkel und regnerisch, als ich mich auf den Weg ins Labor
mache.
Die Fahrradbeleuchtung und ich – wir werden auch keine Freunde mehr.
Die ersten paar Meter funktioniert die Vorderlampe noch und dann sehe ich, wie
sie erst immer schwächer und schließlich
gar nicht mehr leuchtet. Das ist bei Regen immer so und ich weiß nicht, ob es
am Schlamm, oder an der Nässe liegt.
„Du bist aber früh heute“, sagt der MTA und begrüßt mich mit einer
Umarmung. „Ich konnte nicht mehr schlafen“, erwidere ich. „Und ganz nass
geworden bist Du auch… Ich würde vorschlagen – wir holen uns erst mal einen
Kaffee und von der Verabschiedung einer Kollegin gestern sind ein paar Nussecken
übrig geblieben. Was hältst Du davon?“
Da sagt man nicht nein, oder?
Als wir wieder im Labor sitzen, erwähne ich mein Problem mit dem
Fahrrad und frage ihn, an welcher der beiden Möglichkeiten das Problem liegen
könnte. „Da rutscht das Rad am Dynamo vorbei“, sagt er. Das ließe sich aber
ganz einfach beheben, indem man den Dynamo ein wenig in Richtung des Rades drücke, um den Druck auf das Rad zu erhöhen.
„Wo steht das Fahrrad?“, fragt er. „In der Auffahrt“, gebe ich zurück.
„Müssen wir da durch den Keller?“ Auf mein Nicken hin sagt er, dass
wir uns dann nach dem Frühstück darum kümmern.
Zwei Stunden später gehen wir gemeinsam zu meinem Fahrrad – der MTA
mit einer Zange bewaffnet. „Hast Du immer eine Zange dabei?“, hatte ich ihn gefragt,
als er sie aus seiner Tasche zog. „Bei dem Gebäude braucht man die“, gab er nur
zurück…
Das Fahrrad ist tatsächlich in nicht mal einer Minute repariert. Er
dreht am Rad und schaut, ob die Lampe leuchtet. „Die Rücklampe leuchtet nicht“,
knurrt er. „Aber die Vorderlampe“, sage ich kleinlaut.
Ich hatte letztens schon vermutet, dass das Rücklicht kaputt ist, als
ich bei einem Schulterblick kein rotes Licht sah. Aber ich habe das mal auf den
Dynamo geschoben, weil ich mich jede Woche um diese Beleuchtung kümmere und es
einfach nur noch nervt und das ja im Prinzip ein plausibler Grund war.
„Da muss ich mich wohl drum kümmern und nächste Woche mal in
irgendeinem Fahrradladen vorbei gehen. Jedenfalls wüsste ich nicht, woher man
sonst so eine Birne bekommt“, erkläre ich, während der MTA sie schon geschickt
ausbaut.
„Du kannst nicht mit einer kaputten Lampe herum fahren. Es ist fast
Winter. Komm mit – wir suchen eine“, sagt er.
Gemeinsam gehen wir in einen anderen Trakt der Anatomie und klingeln.
Diese Räumlichkeiten leitet der Betreuer meiner Doktorarbeit und er lässt uns
hinein. Sein Blick verrät, dass er ein wenig erstaunt ist, uns zu sehen. Wenn
wir zu zweit zu ihm kommen, haben wir meistens schlechte Nachrichten im Gepäck.
„Haben wir hier noch irgendwo Fahrradlampen?“, fragt der MTA.
„Ach ihr repariert Mondkinds Fahrrad?“, fragt mein Betreuer ein wenig
erleichtert.
Wir gehen in die Werkstatt in der auf den ersten Blick allerlei nicht identifizierbares Gerümpel herum liegt.
Mein Betreuer ist ein Fan vom Handwerken. Auch unsere Vakuum – Pumpe für den
Versuch mit den Herzmuskeln ist hier entstanden.
Und aus einem kleinen Kästchen das verstaubt oben auf einem Regal in
einer Ecke steht, zaubert er tatsächlich eine Birne. „Dann schmeißt Du ein paar
Münzen in die Kaffeekasse und kannst Dir den Weg zum Fahrradladen erst mal
sparen – und Du hast Licht“, erklärt der MTA. Jetzt muss ich nur noch
herausfinden, wo die Kaffeekasse verwahrt wird.
Und ein paar Minuten später ist mein Fahrrad wieder her gestellt.
Zwischendurch treffe ich mich noch kurz mit einer Freundin. Wir wollen
einen Kaffee trinken und ein bisschen quatschen, weil ich noch ein paar Fragen
zur Belegung für das PJ habe und sie das ja schon gemacht hat.
Sie bringt mir noch ein Stück selbst gebackenen Kuchen mit. Außerdem,
erklärt sie, möchte sie mir beim Lernen fürs Examen noch ein wenig unter die
Arme greifen, um das für mich so einfach wie möglich zu gestalten.
Wir sind noch gar nicht so lange miteinander befreundet. Eigentlich
hat sich das erst in meiner Klinikzeit entwickelt. Zwar waren wir in einer
Großgruppe und kamen auch miteinander zurecht wenn wir aufeinander trafen, aber mehr war es nicht.
Es ist schon erstaunlich, wie sich das geändert hat. Ich habe durch
die Klinik einige Leute verloren, aber den ein oder anderen auch dazu gewonnen
und auf sie kann ich mich wirklich verlassen, wenn etwas ist.
Ich glaube eigene Erfahrungen mit dem Thema hat sie nicht – das hätte
sie mir mittlerweile mit Sicherheit erzählt – und ich weiß nicht, ob sie meine Situation
nachvollziehen kann, aber sie nimmt es hin und verurteilt mich nicht dafür. Sie
ist eine der wenigen Personen von der ich noch nie gehört habe: „Da musst Du
Dich einfach nur mal ein bisschen anstrengen“, oder etwas in der Art.
Es ist beinahe Mittag als ich wieder im Labor sitze und sich alle Probleme
mit einem Mal gelöst haben. Und plötzlich bin ich auch wieder etwas
zuversichtlicher, was das Examen betrifft.
Und manchmal bin ich schon beeindruckt und bewegt von der Hilfsbereitschaft
der anderen Menschen.
Ich weiß nicht, ob ich in der Klinik vielleicht tatsächlich ein
bisschen offener und forscher geworden bin. Man selbst kann das
immer schlecht beurteilen, aber früher war das anders.
Da hatte ich das Gefühl, dass ich ganz viel investiere, aber nur sehr
wenig zurückkommt.
In den letzten Wochen habe ich manchmal das Gefühl, dass Dinge die ich
nur unter der Käseglocke Klinik für möglich gehalten habe, auch nach draußen
getragen werden können. Ich weiß nicht, wie ich das geschafft habe, aber es ist
alles mehr ein Geben und Nehmen geworden.
Die anderen wussten immer, dass sie sich in letzter Instanz doch
irgendwie auf mich verlassen können, weil ich – so schlecht wie es mir auch
ging – am Ende immer alles hinbekommen habe. Ich wusste, was in den Vorlesungen
gelaufen ist, ich war eine der wenigen, die in jedem Seminar saß, obwohl ich
den weitesten Fahrtweg hatte und ab einer bestimmten Anzahl von Studierenden,
wurden die Fehlenden nicht aufgeschrieben. Ich hatte zu jedem Thema
Zusammenfassungen, die ich verleihen konnte. In Bezug auf die Uni war ich eine
sichere Quelle. Zwischenmenschlich war ich vielleicht zu sehr mit mir selbst
beschäftigt und war deshalb vielleicht auch so ziemlich die Letzte, der man
irgendetwas Privates erzählt hat.
Und jetzt habe ich das erste Mal das Gefühl, dass das alles auch auf
Gegenseitigkeit beruht. Im Moment bin ich nicht in der Position sehr viel Geben
zu können, weil die anderen einfach weiter sind, aber es berührt mich schon,
dass es meiner Kommilitonin ein persönliches Anliegen ist, mir die
Startvoraussetzungen ein bisschen zu erleichtern.
Der MTA und ich – wir kamen schon immer gut zurecht, aber seit der
Klinik sind wir noch näher zusammen gerückt.
Und es ist irgendwie sehr erwärmend und erhebend mitzubekommen, dass
ich anderen Menschen etwas bedeute und sie sich umgekehrt in mancher Hinsicht
auch auf mich verlassen oder mir Dinge anvertrauen, von denen ich weiß, dass
damit sorgsam umzugehen ist.
Mondkind
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