Tag 36 / 116 Lunge III und Ambulanz


Mein Morgen begann heute seit langer Zeit mal wieder im Labor.
Mit einer morgendlichen Umarmung und einem Tee und ein bisschen quatschen. Wie habe ich das vermisst.
Eigentlich war ich gekommen, um meinen Ordner mit den Dokumentationen meiner Schnitte und das Laborbuch zu holen, weil ich es in Erwägung ziehe, jetzt nebenbei doch noch ein paar Dinge für die Arbeit auf den Weg zu bringen.

Ich hatte nur rund 20 Minuten Zeit, danach musste ich mich schon auf die Socken in die Ambulanz machen. Ich habe heute festgestellt, dass Termine morgens eher ungünstig sind – da kommt man den ganzen Tag nicht mehr richtig in den Lernflow, weil da ja doch über sehr sensible Themen geredet wird, die man so einfach nicht abhaken kann.
Heute morgen stellte es sich aber in Hinblick auf den heran nahenden Sturm doch als passend heraus. Auf dem Rückweg wurde ich schon von der ein oder anderen Windböe erfasst, aber bevor es schlimm wurde, war ich zu Hause.

Eine Freundin kennt mich auch schon. Sie hat mir dann eine whatsApp geschrieben: „Falls Du es durch Deine Lernerei nicht mitbekommen hast – gleich soll ein Sturm aufziehen. Es sollen bitte alle in ihren Wohnungen bleiben. Da ich weder möchte, dass Du mir weg fliegst, noch dass Du von einem fliegenden Objekt getroffen wirst – Bleib in Deiner Wohnung!!!“
Das ist so einer dieser kleinen Momente am Tag, die auch mir ein Lächeln aufs Gesicht zaubern.

Nachdem es mit dem Lernen dann erst gar nicht ging und ich erst mal eine Runde Tagebuch schreiben musste und mich dann ein wenig aufs Bett gelegt habe, konnte ich anfangen. Es lief dann auch ganz gut – also mit der Lunge komme ich wirklich viel besser zurecht, als gedacht. Sogar die Bronchialkarzinome konnte ich relativ flott durcharbeiten – wahrscheinlich auch nur, weil die Histologie an anderer Stelle besprochen wird – damit habe ich immer Sorge. 



Und dann stand die Wiederholung von gestern an… - das war so mittelprächtig, aber ich habe alles nochmal zusammen gefasst…ich hoffe, jetzt ist es im Kopf.

Und dann musste ich noch Pharma V kreuzen. Ich dachte, dass es eventuell gar nicht gehen wird… - Antibiotika, Zytostatika, Therapie von Pilzen und Würmern… nicht so meins… aber – auch wenn ich zu viel nach Ausschlussprinzip gearbeitet habe… - es lief. Ich habe über 80 % gekreuzt.
Dennoch werde ich jetzt nochmal das word – Dokument abschreiben, das ich immer nebenbei aus den Antworten schreibe. Mit einem Drucker wäre es einfacher, aber ich habe ja keinen. Aber es soll ja ohnehin besser für das Lernen sein, die Dinge mit der Hand zu machen...

***
Ich habe mir eine Weile überlegt, ob ich heute hier schreibe, was in der Therapie passiert ist. Den Tagebucheintrag habe ich ohnehin, ich müsste nur die Namen raus streichen. Um ihn in gekürzter Form nochmal zu schreiben, habe ich keine Zeit und da würde wahrscheinlich auch wesentliches untergehen.

Ich habe mich letzten Endes dafür entschieden – auch wenn das heute sehr privat und persönlich ist. Nicht zuletzt, weil es so deutlich macht, wie sehr man rational wissen kann, was gerade los ist und dennoch in seinem Kopf gefangen ist und aus diesem depressiven Tunnelblick so gar nicht raus kommt.

Letzen Endes hilft das vielleicht auch anderen Menschen noch mal ein Stück weit nachzuvollziehen, was da eigentlich passiert.




Ambulanz heute…

Ich hätte einen Zettel mitnehmen sollen glaube ich, obwohl das eigentlich immer besser ist, wenn man selbst sprechen kann. Aber während mein Kopf den gesamten Tag über gar nicht aufhört dieselben Schleifen zu denken, tut er genau das in der Therapie natürlich nicht.



Ich ziehe die komplette Thematik heute mal von zwei Seiten auf.

Auf der einen Seite steht der baldige Umbruch des bisherigen Lebens an. Nach dem Examen werden die ersten Fühler hinaus ins Arbeitsleben gestreckt. Und nicht nur das: Wahrscheinlich findet das auch an einem völlig anderen Ort statt, hunderte Kilometer von hier weg.

Auf der anderen Seite bringen neue Situationen mich auch immer dazu, ein wenig zurück und ein wenig nach vorne zu blicken. Ich habe in den letzten Jahren gelernt, dass es schon immer irgendwie geht, wenn es gehen muss – das ist nicht das Ding. Die Frage ist nur, wie es mir damit geht. Ob sich die Quälerei wirklich lohnt – und nachdem die Klinik es auch nicht nachhaltig gebracht hat, sehe ich da gerade kaum noch Möglichkeiten für mich für eine Verbesserung. Denn weder schaffe ich es selbst, noch mit professioneller Hilfe.

Und wenn diese beiden Themen aufeinander prallen, überfordert mich das gerade etwas. Da kommt ab Mai so viel auf mich zu – das erscheint mir gerade unaushaltbar.



Wir reden eine ganze Weile über den Sinn und Unsinn davon Bilanzen zu ziehen - denn das ist das, das ich ihrer Meinung nach getan habe. Und eigentlich ist es nicht sinnvoll – das ist mir auch klar. Gerade wenn man in den letzten Jahren keine so gute Zeit hatte, hilft das nicht unbedingt.

Und irgendwie fängt das alles schon wieder an, mich dezent zu nerven.

„Ich muss dazu nochmal etwas sagen“, hake ich ein. Und dann berichte ich, dass es in mir im Moment einfach zwei Seiten gibt, die so klar getrennt sind, wie das vorher noch nie der Fall war. Die eine Seite ist die vernünftige Seite, die weiß, dass mein Denken gerade völlig an der Realität vorbei geht. Es ist nicht alles so negativ, wie mir das gerade vorkommt, dieses Jahr wird es auch viele Situationen geben, die für mich Chancen sein können und die ich einfach so gut es geht für mich nutzen muss. Leben hat viel mit Eigenverantwortung zu tun und es ist an mir zum richtigen Zeitpunkt bereit zu sein, mich auf die Dinge einzulassen. Die Vernunftseite versucht gerade die Negativ – Seite aus ihren Schleifen zu holen, weg von dem Tunnelblick in dem ich gefangen bin, aber das funktioniert nicht. Im Moment habe ich dazu einfach nicht die Kraft.

Und dann gibt es da eben die viel stärkere Negativseite, die einfach nur noch müde ist. Die auf die letzten 12 Jahre zurück blickt, sieht, dass wir immer wieder versucht haben, dass es uns besser geht. Versuchen unser Leben auf die Reihe zu bekommen – das brauchten wir nicht, das lief immer irgendwie, aber es ging mir dabei über weite Strecken einfach nicht gut. Da war immer diese Schwere und diese Leere auf den Tagen, die überall mit hin reiste – wo immer ich auch war und glaubte, diese Dinge für einen Augenblick zurück lassen zu können.

Dieser Seite geht es nicht darum, dass das PJ unschaffbar ist – aber sie möchte keine Wegpunkte mehr suchen müssen, an denen wir uns irgendwie entlang hangeln können. Sie möchte keine Zeiten mehr, in denen ich mir sage: „Mondkind, so schwer ist es doch nicht. Du musst morgens nur aufstehen, Dich anziehen und irgendwie den Tag überstehen… - wie ist egal, einfach nur machen.“



„Bilanzen sind doch eigentlich dazu da, um zu überlegen was noch fehlt, damit etwas besser wird“, sagt die Therapeutin. Schon wieder Bilanzen… „Also simples Beispiel: Wenn ich abends etwas kochen möchte, dann stelle ich eine Bilanz auf um festzustellen, was mir noch fehlt. Und dann merke ich, dass mir zum Beispiel Eier fehlen und fahre sie besorgen…“

„Naja…“, merke ich an, „bei mir  ziehen sich die Bilanzen im Moment eben immer ins Negative und ich nutze sie eher als Rechtfertigung…“



„Als Rechtfertigung wofür…“, fragt sie.

Pause.

„Wofür müssen Sie sich denn rechtfertigen…? Das müssen Sie erklären.“

Das war von mir ein wenig ungeschickt formuliert… Sie weiß es wahrscheinlich… und jetzt fängt sie mich damit ein. Und irgendwie bin ich ihr sogar dankbar dafür.



„Um es kurz zu machen… - für mich ist im Moment ziemlich klar, dass ich den Juni nicht mehr erlebe…“, sage ich.

Ich erkläre ihr, dass ich weiß, dass es wahrscheinlich nur ein Ausdruck völliger Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit ist und dass es nicht das ist, was ich wirklich will. Ich könnte jedes Mal völlig zusammen brechen, wenn ich an die Zukunft denke. Rational gesehen weiß ich, es gibt noch so viele Chancen, so viel zu sehen und so viel zu erleben, aber ich kann eben gerade auch nicht mehr klar denken. Für mich ist die negative Seite die derzeit reale Seite.



„Was soll ich dazu noch sagen?“, frage ich mit einem gewissen Maß an Verzweiflung. „Ich weiß, dass Sie Recht haben mit allem, was Sie da erzählen, aber das kommt bei mir gerade wirklich nicht an.“



Sie erklärt mir, dass die Denkweise und die ganze aktuelle Situation gar nicht mal so selten sind, aber ich da ja zum Glück ziemlich reflektiert sei.

„Es ist ja nun auch nicht das erste Mal“, erkläre ich ihr. Für mich war das zwar noch nie so konkret wie im Moment und es macht mich selbst wirklich traurig und wütend, weil ich mir schon denke, dass es nicht das Resultat von 12 Jahren kämpfen sein kann und ich es hasse, dass es immer wieder Phasen gibt, in denen das so einbricht und in denen ich so überfordert bin, aber ich kenne es.

Aber im Moment gibt es da noch die Vernunft, die da immer mal noch rein grätscht und sagt: Es wird besser. „Ich glaube, das ist ein Segen. Wenn ich das nicht kennen würde – ich glaube, dann wäre es gerade echt brenzlig, aber ich weiß, dass es besser wird…irgendwann.“

„Und was ist da gerade noch das sie hält, außer Ihre Vernunft…?“, fragt sie. „Nicht so viel…“, gebe ich leise zurück…



„Frau Mondkind, ich möchte, dass Sie mir jetzt ein paar Dinge versprechen…“, erklärt sie heute mal ganz konkret.

Natürlich nicke ich die alle brav ab.

Ich erscheine dort nächste Woche wieder unversehrt, wenn konkrete Pläne (konkret ist mal zum Glück nicht dasselbe wie „vage“) entstehen --> ab in die Notaufnahme und die Telefonnummer der Klinik habe ich natürlich auch. 
Ist ja nicht das erste Mal, dass wir solche Abmachungen treffen.



„Es ist wirklich wichtig, dass sie darüber sprechen – das kann ja auch Druck raus nehmen“, schließt sie. „Es macht mir auch gerade ganz viel Druck - vor allen Dingen, weil ich weiß, wie irrational das ist“, gebe ich zurück. „Ich weiß, deshalb sage ich das und wir arbeiten da dran“, sagt sie. „Das ist ja immer nicht so einfach, das in der Ambulanz anzusprechen, aber das müssen Sie machen“, schärft sie mir ein. „Ja ich weiß“, erwidere ich, „ich habe nur immer ein wenig Angst vor den Konsequenzen, gerade jetzt in der Examenszeit“, erkläre ich und nutze die Gelegenheit, dass wir gerade mal offen über das Thema „ansprechen in der Ambulanz“ reden. „Das kann ich verstehen“, entgegnet sie, „aber wie Sie gesehen haben, knaste ich Sie ja nicht ein.“

Und dafür bin ich ihr wirklich dankbar – dass sie da mit dieser Thematik so offen umgeht.



Und jetzt heißt es irgendwie weiter gehen, so unaushaltbar der Druck in mir auch zu sein scheint. Ich muss mich zwingen, mich auf die Uni zu konzentrieren. Notaufnahme bzw. Klinik ist halt auch keine Option – dann wird ja nur alles noch schlimmer, wenn ich mit dem Zeitplan auch noch in den Verzug gerate und dort irgendwo fest hänge. Und abnehmen kann es mir ohnehin keiner – mehr als Tavor geben, um zumindest streckenweise die unerträgliche Schwere zu nehmen, können die ja auch nicht machen.

Die Lösung ist Zeit. Und Geduld… - bis sich langsam Lösungen finden, bis klare Realitäten entstehen, bis ich weiß, wo ich nach dem Examen bin und manchmal ist es tatsächlich auch die Zeit, die akute Krisen irgendwann abklingen lässt.

Alles Liebe
Mondkind

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