Tag 40 / 116 Abdomen III und ein alter Tagebucheintrag
Heute war ich leider so gar nicht im Zeitplan…
Dabei fing der Tag gut an und ich war etwas
verspätet, aber immerhin 15:30 Uhr fertig mit meinem Script.
Da meine Schwester mich gebeten hat ihre
Leistungsnachweise an der Uni mit abzugeben, hat sie mich – da wir darüber
gesprochen haben – auf die Idee gebracht nachzusehen, ob ich alle meine
Schäfchen beisammen habe. Wenn da auch nur ein Zettel fehlt, darf ich nicht das
Examen schreiben – das ist also extrem wichtig und ich weiß nicht, wie oft ich
diese Zettel schon gezählt habe.
Ich kam darauf, dass mir genau zwei Zettel fehlen.
Selbst mit mehrmaligen Nachzählen, nachdem ich die ganze Kiste, in der ich die
sammle auf den Kopf gestellt hatte und meinen halben Schrank ausgeräumt hatte
in der Hoffnung, dass sie vielleicht daneben gefallen sind – sie fehlten.
Manchmal merkt man, dass ich im Sommer wohl doch
nicht alle meine Sinne zusammen hatte. Nach einer Stunde suchen hat meine
Schwester vermeldet, dass sie noch ein einem Ordner liegen, den ich ihr für die
Klausurvorbereitung geliehen habe.
Ich war so erleichtert – auch wenn ich nicht so
richtig weiß, wie das passieren konnte, weil ich die Zettel eigentlich immer
sofort in die Kiste gepackt habe. Leider hat mich das eben erstmal völlig aus
dem Konzept gebracht und außerdem mehr als eine Stunde gekostet… - ich hoffe
durch den Schock ist nicht das Tageswerk wieder aus meinem Kopf verschwunden…
Ansonsten… - wenn nicht gerade so Dinge wie heute
passieren, dann laufen die Tage ja einigermaßen; zumindest – was die
Organisation angeht.
Ich habe nur seit mehr als einer Woche - abgesehen von
meinem kurzen Abstecher im Labor und meiner Therapeutin - keine Menschenseele
mehr gesehen und so langsam fällt mir hier die Decke auf den Kopf (wer sich
jetzt wundert – meine Mitbewohnerin und ich reden so gut wie nie miteinander;
irgendwie hatte ich mir das WG – Leben auch anders vorgestellt).
Ansonsten habe ich heute wegen der
Leistungsnachweise noch kurz mit einer Kommilitonin telefoniert, die das Examen
schon hinter sich hat. Sie hat mich gefragt, wie viel Prozent ich denn immer so
kreuze und ich dann so: „Selten unter 80%“.
Und sie dann nur: „Entspann Dich Mondkind“.
Das sagen alle irgendwie – ich habe nur so Angst
vor dem Vergessen…
Ich muss jetzt noch ein wenig kreuzen und ein
bisschen Ortho wiederholen und hier mal aufräumen… Es sieht aus, als hätte eine
Bombe eingeschlagen…
***
Einige Leute mögen des Nachts schlafen, Mondkind
tut das aber zu häufig nicht und deshalb habe ich in der letzten Nacht mal ein
wenig mein Tagebuch durchforstet. In Anlehnung zum gestrigen Post bin ich dabei
über einen Eintrag gestolpert, der die damalige Situation und die Anfänge nicht
besser wieder spiegeln könnte.
Mittwoch, 20. April 2006
Heute bekamen wir unsere Lateinarbeiten wieder. Ich
hatte eine 3 und nun stecken wir [meine Schwester und ich] mächtig tief in der
Tinte.
Von Mama und Papa durfte ich mir während [meine
Schwester] beim Schwimmen war eine Generalpredigt anhören, wie schlecht wir
nicht seien, wie wenig wir gelernt hätten und natürlich wusste Mama alles
besser als sie die Arbeit gesehen hat, dabei kann sie doch gar kein Latein. Und
wenn ich dann sage „das ist aber so und so“, gibt es sofort wieder Zoff.
Jetzt müssen wir natürlich noch mehr üben.
Da wir sowieso schon immer bis abends an den
Hausaufgaben sitzen, wird das ohne Nachtschichten einzulegen, gar nicht mehr
funktionieren.
Irgendwann macht man sich aber auch selbst Druck –
so wie eben in dieser Arbeit. Ich hätte es gekonnt, wenn ich nicht so aufgeregt
gewesen wäre und da hilft auch kein Üben mehr.
Man muss schon stark sein liebes Tagebuch, wenn man
das alles aushalten will, ohne mehrmals am Tag auszurasten und dafür gleich
wieder Ärger zu bekommen.
Morgens wenn man aufsteht weiß man, wie der Tag
enden wird. Man wird mit Kopfschmerzen ins Bett gehen und nichts anderes als Buchstaben und Zahlen gesehen haben. Fast jeden Abend gibt es
Streit. Wenn man den ganzen Tag gelernt hat, liegt immer so eine Spannung in
der Luft und dann sagt man auch schon mal etwas Falsches. Aber das führt dann
nur zu noch mehr Ärger.
Besonders schlimm ist es, wenn ein sonniger Tag
sein Ende findet und man nichts getan hat außer Lernen und Schularbeiten.
In der Schule berichten alle immer, was die am
Vortag getan haben und man hört immer nur schweigend zu. Einen selbst fragt ja
schon keiner mehr, weil alle wissen, wie die Antwort lautet!
Gerade ist die Sonne hinter den Hausdächern
verschwunden und der Tag neigt sich dem Ende. Und ich bin wieder traurig. Bald
werde ich keine Zeit mehr haben, Dir regelmäßig zu schreiben. Aber ich weiß,
dass es mir hilft und deshalb mache ich es dann vielleicht im Zuge der
Nachtschicht. Ich darf natürlich nicht erwischt werden!!!
Gute Nacht Dir und bis morgen!
Wow… da war ich 12 Jahre alt, als ich das geschrieben habe.
Es ist nur einer von vielen
Einträgen und viele davon sehen ähnlich aus. Und schon damals habe ich vehement
den Sinn des Lebens in Frage gestellt, wenn ich doch nie glücklich mit den
Tagen bin.
Mir geht es bei der ganzen Sache nicht darum, nach
Verantwortlichkeiten zu suchen, sondern damit mir selbst auch einfach klar
wird, was damals subjektiv bei mir angekommen ist.
Ich habe da gar keinen Bezug dazu – vielleicht ist
das auch vollkommen normal und ich habe nur komplett überreagiert damals.
Ich weiß ehrlich gesagt nicht, was 12 – jährige sonst
so mit ihrem Leben machen.
Irgendwo war das ja auch ein guter Ansatz die
Kinder zu fordern und zu fördern – insofern hätte ich mich vielleicht einfach
besser fügen sollen. Wer weiß, wo ich heute sonst wäre… Hätte ich studiert? Und
dann auch noch Medizin? Bereichernd ist das Studium ja schon und ich war sehr
froh, dass ich in der Klinik zumindest wusste, was die Ärzte da tun und was die
Medikamente mit mir und meinem Körper anstellen. Ob ich in dem Job werde
arbeiten können, ist mal eine ganz andere Frage. Die Rate von affektiven
Störungen und Suiziden ist schon nicht umsonst unter den Medizinern außergewöhnlich
hoch. Es ist einfach ein verdammt anstrengender Job und dann auch noch in einem
Rahmen, in dem in den meisten Krankenhäusern Hierarchien das Stichwort der Zeit
sind (Für mich ist eher letzteres das Problem...).
Ob ich woanders glücklicher geworden wäre, kann man
wohl heute schlecht sagen.
In der Klinik habe ich in Ansätzen darüber geredet –
der Ergotherapeut hat sich da am meisten mit mir auseinander gesetzt. Das Ding
war nur – immer, wenn ich mit solchen Geschichten wie oben um die Ecke kam,
dann hieß es: „Also Frau Mondkind, so etwas habe ich in 20 Jahren Dienstzeit
nicht erlebt“ und „Also bei dem was Sie da erzählen, sehe Ihre Entlassung in
ganz weiter Ferne.“
Und zum Einen wollte ich nach sieben Wochen wieder
an die Uni – also würde ich allmählich mehr oder weniger den Mund halten
müssen, um den Plan nicht zu gefährden. Andererseits dachte ich mir, dass es
vielleicht auch an mir liegt, das subjektiv so beengend wahrgenommen zu haben.
Ich weiß es nicht… für mich war das normal – ich war
halt nur unglücklich damit und habe mich manchmal gefragt, warum sich nicht die
halbe Menschheit das Leben nimmt, wenn alle so leben müssen.
Ich frage mich nur, ob ich eine Chance gehabt habe
ein eigener Mensch mit einer eigenen Persönlichkeit zu werden. Wie sollte ich
so eingeengt heraus finden, was ich wirklich möchte, was mir Spaß macht und was
mir wichtig ist? Wie sollte ich lernen die Flügel aufzuspannen, wenn ich doch
gar nicht raus in die Welt konnte?
Und ich frage mich, ob es möglich sein wird, quasi
seine komplette Jugend irgendwie zu kompensieren. Oder ob ich immer ein wenig
ziel- und orientierungslos durch mein Leben streifen werde, weil ich keine
Ahnung habe, wer ich eigentlich bin.
„Sie müssen Sich doch vorkommen, als seien Sie auf
dem Mars gelandet“, sagte der Psychologe in der Klinik ein paar Tage nach der
Einweisung zu mir. Ja, ein bisschen kam ich mir tatsächlich so vor.
"Also ich weiß ja nicht, wie Sie das hinbekommen haben, aber ich habe auch noch niemandem eine Anpassungsstörung im Rahmen des Klinikaufenthaltes diagnostiziert."
Klinik ist ja schon Käseglocke. Und auch der Kommentar hat mich verstört. So krass war das doch nun auch wieder alles nicht? Oder hatte ich etwas falsch gemacht, etwas Falsches erzählt?
Zumindest bin ich wieder dazu übergegangen,
regelmäßig Tagebuch zu schreiben und meinen Gedankenschleifen ein wenig Raum zu
geben. Das habe ich sehr lange Zeit zwischendurch tatsächlich nicht mehr getan.
Also ist dieser Blog ein kleiner Erfolg würde ich mal sagen.
Fraglich ist es auch, warum sich die wesentlichen
Fragen des Lebens konsequent immer in der Prüfungszeit stellen…
Alles Liebe von einer Mondkind, die heute sehr durcheinander ist...
Kommentare
Kommentar veröffentlichen