Psychiatrie #53 Ich frage mich...


Hey mein lieber Freund,
weißt Du was - es gibt einen Nachtrag zu gestern. Ich habe gestern in der Abendrunde gesessen und habe gesagt, dass es irgendwie ein bisschen ruhiger in mir ist und der Tag ein bisschen besser gelaufen ist. Und, dass Du sehr präsent warst. Dass ich Dich beim Spaziergang fast neben mir spüren konnte und Deine Hand fast auf meiner Schulter fühlen konnte. Dass ich das Gefühl hatte, dass Du beim Mail schreiben neben mir saßt und dass Du es warst, der aus den Ideen im Kopf die Worte geformt hat und dass Du am Ende nochmal drüber gelesen, mir den Schubs gegeben und und gesagt hast: „Schick die Mail ab und schau was passiert – zu verlieren hast Du langsam nichts mehr. Und außerdem brauchst Du dieses Kaff sowieso nicht. Die brauchen Dich…“

Und… - kaum war ich raus aus der Abendrunde, habe ich auf dem Flur einen Menschen – einen Weißkittelträger – entlang hasten sehen von dem ich weiß, dass Du ihn sehr gut kanntest. Ich kannte ihn auch, aber Du kanntest ihn sehr viel besser. Ich glaube, das letzte Mal hast Du im März mit ihm geredet, kurz vor Beginn der Corona - Krise. Und… ich frage mich, was passiert wäre, wäre ich dreißig Sekunden eher diesen Flur entlang gelaufen. Ich frage mich, ob er mich aufgehalten hätte. Ich frage mich, ob er gefragt hätte: „Hallo Frau Mondkind, was machen Sie denn hier?“ Ich frage mich, was ich ihm gesagt hätte. Ich frage mich, ob ich ihm gesagt hätte: „Naja die Sache mit den Depressionen ist ein bisschen aus dem Ruder gelaufen und dann – als Tüpfelchen auf dem i – ist auch noch ein Freund gestorben.“ Ich frage mich, ob er nachgefragt hätte, wer dieser Freund war und ich frage mich, ob ich es ihm gesagt hätte. Ich frage mich, ob Dein Name ihm etwas gesagt hätte. Ich frage mich, was passiert, wenn diese ganzen Gruppen, in denen der Weißkittelträger immer war und in denen Du immer warst und in denen ihr beide diese Gespräche hattet, wieder stattfinden. Ich frage mich, ob er irgendwann mal nach Dir fragen wird und ich frage mich, ob irgendwer Bescheid weiß, wo Du geblieben bist. Ich frage mich, was er dann denkt, wenn er es erfährt.


Und heute… - heute im Sport hatten wir einen neuen Mitpatienten in unserer Gruppe, der genau den gleichen Namen trägt wie Du. Schon als er vor wenigen Tagen auf die Station kam und ich von einer Mitpatientin erfahren habe, wie er heißt, habe ich mich gefragt: Muss das auch noch sein?
Aber heute… - habe ich mit ihm Federball gespielt. Und während ich da so stand und den Fokus auf dem Ball hatte habe ich mich gefragt, wie das wäre, den Ball zu Dir zu spielen und irgendwie war es ein bisschen friedlich. Fast konnte ich Dich sehen, wie Du mir gegenüber standest. Obwohl wir glaube ich nicht ein einziges Mal Federball zusammen gespielt haben.

Ich frage mich, ob Geschichten immer am Ende irgendwie rund werden. Hier haben wir uns kennen gelernt. Das erste Mal die Handynummern getauscht. Du hast mich quasi überfallen, als ich noch gar nicht in der Lage war darüber nachzudenken, dass man nicht jedem Typen auf dem Gelände seine Handnummer gibt. Ich frage mich, ob Dein Name hier generell irgendwem etwas sagen würde.

Und hier… - hier ist auch der Ort, um mich von Dir ein bisschen zu verabschieden.
Ansonsten gibt es noch keine Neuigkeiten. Ich melde mich. Das musste ich nur los werden.

Ganz viel Liebe
Mondkind



Bildquelle: Pixabay

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Drittes Staatsexamen - ein Erfahrungsbericht

Reise - Tagebuch #2

Von einem Gespräch mit dem Kardiochirurgen