Psychiatrie #44 Mal wieder ein Brief...


Wir spüren nicht mehr, was uns verbindet
Nur diese Kälte, die uns trennt
Wir sind 'n kleiner Teil des Ganzen
Doch können das Ganze, das ganze nicht mehr teilen
Sind so unendlich viele Menschen
Aber viel zu oft allein

Wir sind wie blinde Passagiere
Treiben einfach so umher
Auf 'ner kleinen blauen Kugel
Durch das große, schwarze Meer
Wir sind wie blinde Passagiere
Wissen nicht, wohin es geht
Und wenn man irgendwann aussteigt
Will doch jeder sagen
Wir ha'm geliebt, wir ha'm gelebt

(Johannes Oerding – blinde Passagiere)

Hey mein lieber Freund,
Na, wie geht es Dir… ?
Ich hoffe, da oben ist es irgendwie besser. Ich hoffe, Du kannst zumindest sagen, dass Du schon auch gelebt hast. Und geliebt hast. Irgendwann. Zwischendurch. Vor der Verzweiflung. Vor dem Ende.

Weißt Du was… ? Ich kann mich noch an die ersten Tage unmittelbar nach dem Ereignis erinnern. So im Nebel. Irgendwo. Der Epilepsie – Oberarzt, der sich in seinem Stuhl völlig entgeistert nach hinten fallen ließ, nachdem ich endlich die Worte gefunden hatte. „Nein Mondkind, Du hättest nicht arbeiten kommen sollen…“ Das hat er wiederholt, nachdem ich erläutert habe, dass ich zu meiner Familie eine ganz schlechte Verbindung habe und Freundschaften daher umso wichtiger und wertvoller waren. Und eine andere Kollegin, die ein paar Tage später erklärte: „Mondkind, das ist nicht normal, dass Jemand in den Alter stirbt – damit rechnet man auch nicht. Das ist ein emotionales Trauma; das musst Du jetzt erstmal verarbeiten…“
Und ich… - habe mich still und heimlich gefragt, warum das jetzt hier so dramatisiert wird. „Es geht schon irgendwie…“, habe ich mir gedacht. Und versucht, einfach weiter zu machen. Es ging doch immer. Ging…

„Das Leben so wie es vorher war, das kriegen Sie nicht zurück“, sagte der Seelsorger mal und hat das eigentlich auf die Arbeitssituation bezogen. Aber ich kriege es nicht zurück. Das Arbeitsleben vielleicht noch eher, als das Privatleben. Das „uns“ kriege ich nicht mehr zurück. Nie wieder.

Ich habe angefangen, unsere whatsApp – Konversationen durchzulesen. Vom Anfang an.
Ich kann mich noch erinnern, dass ich mich immer wahnsinnig gefreut habe, wenn Du geschrieben hattest. Ganz am Anfang, als das noch auf so fragilen Füßen stand. Das, was wir da hatten. Und irgendwann nach ein paar Wochen haben wir uns erstmal aus den Augen verloren. Ich kann mich erinnern, dass ich Dich unglaublich vermisst habe. Die Gespräche, die von Anfang an so tiefgreifend waren, diesen Menschen, dessen Umarmungen immer so fest waren, dass ich manchmal das Gefühl hatte, fast erdrückt zu werden. Aber damals dachte ich – so in Mondkindmanier – vielleicht bin ich einfach nicht „genug“ für Dich. Vielleicht möchtest Du Jemanden wie mich nicht in Deinem Leben haben.
Und dann… - anderthalb Monate später haben wir uns wieder in der Bahn getroffen. Ich weiß gar nicht mehr, wo ich da hingefahren bin. Es war ein Zufall – sonst hätten wir vielleicht nie wieder etwas voneinander gehört. Das war irgendwie ein kleines Missverständnis. Ich habe gedacht, ich gehe Dir auf den Zeiger und Du hast umgekehrt dasselbe gedacht und wir waren (glaube ich) damals beide so froh, dass wir uns plötzlich wieder hatten. Und diese besondere Ebene, auf der diese Freundschaft von Beginn an fußte. Als hätten wir uns schon unser ganzes Leben gekannt.
Danach haben wir ungefähr jeden Tag geschrieben. Um uns bloß nicht nochmal zu verlieren.
Und jetzt… - jetzt habe ich Dich für immer verloren. Alles was bleibt, sind Sprachnachrichten. Ich habe mich ja immer geweigert, auf Anrufbeantworter zu sprechen und war der Meinung, dass das ja mit Sprachnachrichten nichts anderes ist, bis Du mich irgendwann mal überzeugt hast. Dass das doch viel einfacher ist. Du glaubst nicht, wie unglaublich dankbar ich bin, dass es die noch gibt. Dass ich Dich noch hören kann, obwohl Du für immer verstummt bist.

Weißt Du… - ich habe versucht, den Menschen zu glauben. Die mir versucht haben zu erklären, dass ich nicht verantwortlich bin dafür. Aber dass ich irgendwie ein komisches Bauchgefühl bei unserem letzten Telefonat hatte, dieses Wissen wird für immer bleiben. Und auch die Frage, ob es etwas geändert hätte, hätte ich Dich zumindest noch ein Mal abends angerufen. Nochmal nachgefragt. Nochmal signalisiert, dass ich da bin. Ich weiß nicht, warum ich das nicht gemacht habe. Ich hatte an dem Sonntag danach Dienst. Kann sein, dass ich einfach zu platt dafür war. Und kann sein, dass Dich das umgebracht hat. Ich weiß es nicht. Wie siehst Du das… ?
Ich kann nicht einfach dieses Leben weiter leben. Als sei nie etwas gewesen. Kann nicht einfach damit leben zu akzeptieren, dass jeder am Ende selbst für sich verantwortlich ist. Zwar stimmt das irgendwo. Aber stockdepressiv, so wie Du es wahrscheinlich warst, funktioniert das eben nicht mehr. Da kann man nicht einfach die Eigenverantwortung in den Vordergrund stellen. Das wissen wir beide. Aus Erfahrung. Aus unseren Krisen, die wir hatten.

Seit anderthalb Wochen kämpfe ich mittlerweile gegen das schwarze Loch. Zu Hause hätte ich den Kampf schon längst verloren. Die negativen Gedanken sinken jeden Tag ein bisschen mehr zwischen meine Hirnwindungen. Aber keine Angst… - der vertretende Stationsarzt hat nachgefragt. Und weiß Bescheid. Vergisst das hoffentlich nicht. Und trägt mich irgendwie dadurch. Zumindest Einer hier im Team. Wenn er nächste Woche noch da ist… Ich müsste nur langsam mal die Kurve kriegen. Und habe ein bisschen Angst. Dass die Situation doch irgendwann hoch geht. Dass ich das nicht mehr tragen kann.
Und irgendwie… - trage ich jetzt ein bisschen Verantwortung. Für uns beide. Deine Mum hatte ja gefragt, ob Sie mich ab und an mal fragen kann, was ich so mache und wie es mir geht. Ich habe natürlich zugestimmt. Ich glaube… - sie denkt Du lebst ein bisschen in mir weiter. Und wenn ich von mir erzähle… - dann erzähle ich indirekt von Dir. Und wenn ich gehen würde, dann würde ein weiterer großer Teil von Dir, der indirekt noch da ist, auch verstummen.
Aber wie… - wie soll ich das machen? Wie soll ich das durchstehen? Wenn der verlässlichste Mensch fehlt? Weißt Du… - ich habe wahnsinnige Angst. Die Menschen sagen, ich muss loslassen. Das Leben soll weiter gehen. Und die Welt dreht sich auch weiter. Ich lerne neue Menschen kennen, mache neue Erfahrungen, die ich nicht mehr mit Dir teilen kann. Ich habe so viel zu sagen, so viel zu erzählen und all die Worte… - verschwinden vielleicht irgendwo zwischen Himmel und Erde. Ich habe einfach Angst, Dich zu vergessen. Dass ich zu schnell sagen werde: „Ich habe da mal Jemanden gekannt…“ Angst, zu schnell einen neuen Alltag zu finden, der nicht mehr nur von Schmerz und Sehnsucht gefüllt ist. Ich weiß, dass Du nicht wollen würdest, dass ich so darunter leide, aber ich möchte Dich auch nicht loslassen. Und beides… - wie soll das gehen… ?

Wir werden wohl irgendwie alle erwachsen. Und irgendwann wird diese kindliche Unbeschwertheit von der Realität zerstört, die das Leben nun mal mit sich bringt. Menschen werden geboren und Menschen sterben. Und niemals hätte ich gedacht, dass Du der erste Mensch wirst, der auf so brutale Weise aus der Welt aussteigt und dessen Tod ich verarbeiten muss.
Niemals hätte ich gedacht, dass ich all die Fragen, die das mit sich bringt, nicht mehr mit Dir zusammen beantworten kann.

Ich vermisse Dich unglaublich. Heute. Hier. Jetzt.

Ganz viel Liebe
Mondkind




***
Ob das heute so eine wahnsinnig gute Idee ist, auf diese Feier zu gehen, weiß ich nicht. Ehrlich gesagt. In dem Zustand. Als ich das gestern mal in der Gruppe angedeutet habe, dass es mir nicht so gut geht und ich mir unsicher bin, ob ich kommen sollte, hieß es sofort, dass ich auch für zwei Stunden vorbei kommen kann und man habe das ja jetzt extra so gelegt, dass es stattfindet, solange ich noch hier bin. Was eben einfach stimmt. Und mich ja auch ein bisschen ehrt.
Und irgendwie freue ich mich ja auch, die Menschen mal wieder zu sehen. Die meisten davon habe ich nicht gesehen, seitdem ich umgezogen bin. Nur ist es in dem Zustand ein bisschen schwierig. Und es werden Nachfragen kommen. Die Meisten wissen nicht mal, warum ich hier bin.
Und dann… - ich bin in zwei Wochen wieder alleine in der Ferne, ab dem Montag danach beginnt das Arbeitsleben wieder – wenn mich das jetzt so unfassbar stresst mal ein paar Stunden mit einer Gruppe verbringen zu müssen: Wie soll ich denn so arbeiten gehen…?

Und ein bisschen Angst habe ich, dass es jetzt wirklich Sonntag oder Montag knallt. Entweder laut oder leise. Irgendwie hatte ich das Bedürfnis bis zum Wochenende durch zu halten. Weil ich fast befürchtet habe, dass es nicht für gut befunden wird, wenn ich nicht zur Feier komme. Dass die anderen enttäuscht wären. Und vielleicht denken würden, ich hätte nur einfach keine Lust. Aber ehrlicherweise… - danach muss ich eigentlich nicht mehr stehen. Erstmal. Ein paar Tage. Und die Kraft ist einfach weg. Ich will auch einfach nicht mehr.

Eine Kollegin hat mir gestern nochmal geschrieben. „Der Chef grüßt Dich ganz herzlich, wenn Du Lust hast, kannst Du ihn jederzeit anrufen…“  Nicht, dass ich das tun werde, aber irgendwie fand ich es doch ein bisschen rührend.

Mondkind

Bildquelle: Pixabay

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