Psychiatrie #25 Der erste Monat und das Überleben vom Ende


Liebes Leben,
ich lebe noch.
Aber die Suizidgedanken… - auch…

***
Ich steh' seit einer Stunde schon am Gleis
Die Hände sind am Kaffee eingeeist
Die Freunde haben schon nachgefragt
Ich hab' für heute abgesagt
Ich frage mich, ob uns das mal entzweit

Ich hasse unsre Liebe auf Distanz
Ich hab' dich immer kurz, aber nie ganz
Die Trennung macht mich wahnsinnig
Und wo du warst, das frag' ich nicht
Ich hasse unsre Liebe auf Distanz

(Revolverheld feat. Antje Schomaker - Liebe auf Distanz)

Das waren wir. Befandest Du.
Wir, die sich so oft auf den Bahnhöfen zwischen der Studienstadt und dem Ort in der Ferne in den Arm genommen haben. Nachdem wir gewartet haben. Und gefroren haben. Uns die Hände am Kaffee gewärmt haben.
Es war „unser“ Lied. Und ich habe mir manchmal vorgestellt wie das wohl sein würde – wir beide auf dem Konzert bei diesem Lied, das so sehr mein Leben zwischen den Welten und unseren Versuch, uns trotzdem nicht zu verlieren, darstellt. Vermutlich wird es immer „unser“ Lied bleiben. Und man kann nicht mehr zählen, wie oft ich es im letzten Monat mitten in der Nacht eingeschalten habe. Und mich an unsere Wiedersehen auf den Bahnhöfen erinnert habe.

Neujahr.
whatsApp – Verlauf.
Du.
„Wir können uns wieder durchs Jahr zusammen begleiten. Es war schön, unsere Treffen und Gespräche letztes Jahr“
Klang so sehr nach Zukunft.

Heute sitze ich hier. Mit Therapeuten – Tee vor der Heizung. Und Tränen in den Augen. (Ein Hoch auf Herrn Therapeuten. Das war mal eine gute Idee…). Ich versuche, hier nicht zusammen zu brechen. Geht auch irgendwie nicht. Zum Sonntag. Geht generell nicht so richtig. Hier. Schutz und Fassade gleichzeitig. Die Mauern der Psychiatrie. 

Laptop, Musik, Heizung und Therapeuten - Tee. Ein bisschen Trost für eine Mondkind - Seele

Heute vor einem Monat war der letzte Tag Normalität. In einer Welt, die auch nicht mehr normal war. In einer Welt, die auf einen Untergang zusteuerte. Was keiner wusste. Jedenfalls wusste keiner, wie ernst es war. Oder, es wollte keiner wissen. Denn dass ein paar Tage später einige Menschen in der Neuro mich eigentlich gar nicht mehr alleine nach Hause gehen lassen wollten, zeugt schon davon, dass da etwas in der Luft lag zwischen den Menschen und mir.
Und dieses Etwas, das hast Du Realität werden lassen. Mit aller Brutalität, die man aufbringen kann.
Deine Mum hat – wie sie sagt – vor einem Monat meine Nummer zwischen Deinen Unterlagen gefunden. Und ich frage mich seit einem Monat – wie kam sie dahin? Wolltest Du, dass irgendwer sie findet? Wolltest Du, dass irgendwer mir irgendwann sagen kann, was passiert ist? Als ich das schon längst geahnt habe? Und trotzdem nicht aufgehört habe, Dich täglich anzurufen, als könne noch ein Wunder passieren? Als könne man dieses Schweigen auf allen Kanälen noch irgendwie anders erklären?
Oder war das Zufall, dass sie ihr in die Hände gefallen ist? Hätte ich sonst nie die endgültige Gewissheit gehabt?
Am 3. Juli morgens habe ich die Nachricht erst gelesen. Noch versucht, den Funktioniermodus aufrecht zu erhalten. Und dann Herrn Therapeuten geschrieben. Der postwendend angerufen hat. Noch ein Hoch auf Herrn Therapeuten. Und irgendwann habe ich gemerkt, dass ich da gerade zitternd, klatschnass geschwitzt, weinend und so fertig, dass ich kaum reden konnte, im Blutabnahmezimmer saß. Er selbst hat vorgeschlagen, dass er noch kurz in der Leitung bleibt. Herr Therapeut war draußen an der frischen Luft und ist mutmaßlich über das Psychiatriegelände gelaufen. Während meine Welt unter ging, haben im Hintergrund die Vögel gezwitschert. Und verraten, dass Herr Therapeut noch bei mir ist. Wenn auch über 400 Kilometer Distanz. Es muss so gegen 16 Uhr gewesen sein. Wäre krass, wenn ich morgen um genau diese Uhrzeit in seinem Büro sitzen dürfte. Und versuchen müsste, nicht zu zerfallen.

Wo wäre ich heute, wäre dieser Zwischenfall nicht passiert? Würde ich noch atmen? Würde ich noch die Sonne sehen? Würde ich noch leben? Nach dieser Woche Urlaub, die hinter mir läge?

Ich weiß nicht, wie es Dir ging - das habe ich auch gestern Abend mit der Pflege besprochen (Wasserdienst ist manchmal nicht schlecht; da muss man die Pflege nerven…) - aber vermutlich gibt man niemals so ganz auf. Nächtelang habe ich hin und her gewälzt, wie ich mich aus dieser ausweglosen Situation retten könnte. Oder, wer mich retten könnte. Aber mir ist nichts mehr eingefallen. Im Lauf des Mai habe ich versucht das Helfersystem zu mobilisieren und habe alle Leute mit ins Boot geholt, die man irgendwie hätte aktivieren können – bis hin zum sehr geschätzten Herrn Psychiater, der damit eigentlich gar nichts mehr zu tun hatte. Aber nichts hat funktioniert. Ich kam nicht vorwärts und nicht rückwärts, konnte nicht laut und vehement genug um Hilfe schreien und das Umfeld war vermutlich überfordert, oder hat die Lage nicht erkannt.
Und irgendwann… - irgendwann hatte ich das Gefühl, es geht nicht mehr anders. Die Tage sind gezählt. Nach und nach habe ich die Zettel durchgeschaut, ergänzt oder neu geschrieben, auf denen noch ein paar Worte für die Menschen hinterlegt waren, die dann bleiben. Mit denen war ich genauso perfektionistisch, wie mit Deinen Briefen. Keine falschen Worte. Die man anders als geplant  interpretieren könnte. Ich wollte keinen verantwortlich machen.

Und genau deshalb werde ich jedes Mal wütend auf mich selbst, wenn ich nur den Anflug von Wut auf Dich bekomme. Und mich anfange zu fragen, wie Du ohne ein Wort zu sagen, gehen konntest. Wieso Du mir nicht erlaubt hast zu versuchen, Dich da raus zu retten.
Man sieht den Weg nicht. Ich kenne das. Ich weiß das. Und ich war schon absolut verzweifelt, obwohl ich noch rund 30 Tage hatte. 30 Tage, von denen jeder Tag alles ändern kann. 30 Tage, im Rahmen derer ich gehofft habe, dass irgendwelche externen Ereignisse ohne mein Zutun das Helfersystem anschmeißen können, weil ich selbst nicht mehr in der Lage dazu war.
Dass ich heute noch hier bin ist das Wunder, das Du auf Deinen Schultern trägst.

Wir haben die Welten verdreht. Irgendwie. In meiner Vorstellung ist das immer anders herum gewesen. In meiner Vorstellung hättest Du den Weg jetzt ohne mich gehen müssen. Dass ich Dich vorher verliere, das war nicht der Plan. 
Die Pflege hatte da eine gute Idee. Ich soll noch einen Brief schreiben. Und die Welten zurück drehen. So, wie das eigentlich gedacht war. Vielleicht sollte ich das vor dem vom Seelsorger vorgeschlagenen Dialog machen; da ist mir nämlich immer noch nichts eingefallen. Aber was würde ich Dir jetzt sagen? Und damit im Endeffekt mir selbst? Lassen wir mal noch den heutigen Tag verstreichen; morgen früh ist es vielleicht fertig.

Ich lebe, weil Du gestorben bist. „Man weiß ja nicht, ob das passiert wäre…“, sagen die Menschen. Aber was hätte sonst passieren sollen? Ich konnte dieses Leben nicht mehr leben. Und ich konnte es nicht mehr retten. Nach so vielen Monaten, in denen die Welt um mich herum immer enger geworden ist.

Und… - oh, da wären wir wieder bei der Therapiestunde vom letzten Montag. Wie geht man eigentlich jetzt mit der Suizidalität um? Da kommen wir auch wieder zum Blogeintrag von gestern und der Entlasspanik. Was ist, wenn es bis dahin nicht besser ist, aber ich weiterhin nicht in der Lage bin, darüber zu reden? Ich glaube Mitte Mai – das war die schrecklichste Tour hier hoch, die ich jemals gemacht habe.
Die Pflege sagte gestern Abend wenn das gerade das vorrangige Thema ist, dann muss ich darüber reden. Und leider haben wir es gerade in doppelter Ausführung. Einmal bezogen auf Dich; das andere Mal bezogen auf mich selbst. Und wie bitte soll das in wenigen Tagen so stabil sein, dass wir alleine weiter einen Fuß vor den anderen setzen können? Ohne schützende Mauern.

Liebes Leben,
was meinst Du… - versuchen wir das nochmal gemeinsam? Du und ich? Ob wir vielleicht doch… - so etwas wie Freunde werden können?
Versuchen wir mal mit Herrn Therapeuten einen Weg zu finden, wie es alles ein bisschen lebenswerter werden könnte? Und… - versuchen wir ehrlich zu sein? Zumindest so lange, wie wir hier sind? Damit wir diese Chance irgendwie nutzen können.
Liebes Leben, es wird anders werden. Vielleicht wird es immer ein „davor“ und „danach“ geben. Aber vielleicht… - vielleicht gibt es zumindest ein „danach“…
Abwarten. In einem Monat sind wir schlauer.

Mondkind

P.S. Danke für all die lieben und unterstützenden Worte, die mich im Moment von den Lesern erreichen. Das bedeutet mir wirklich viel.

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Drittes Staatsexamen - ein Erfahrungsbericht

Reise - Tagebuch #2

Von einem Gespräch mit dem Kardiochirurgen