Psychiatrie #36 Wie viel Nähe... ?
Die Mondkind verstummt langsam. Auch, weil da zu wenig Kraft ist. Weil
ich zu oft vor dieselben Wände gelaufen bin. Immer wieder.
Am Abend in der Abendrunde kann ich kaum laut genug sprechen bei der
Tagesreflexion und als ich später den Wasserdienst durchführen möchte und die
Pflege bitte mit mir in den Keller zu fahren und die Kästen auszutauschen,
übernimmt der Pfleger das netterweise kurzerhand für mich.
Wenn ich imaginativ mein soziales Netz um mich herum sortiere, dann
wird die Katastrophe deutlich.
Wie kann man eigentlich innerhalb von so weniger Zeit, so viele
Menschen verlieren? Beinahe jeden Tag passiert hier irgendetwas Neues.
Heute ist klar geworden, dass das Helfersystem nach der Klinik extrem
zusammen schrumpfen und im Prinzip nicht mehr existent sein wird. Eigentlich
waren es nicht viele Worte, die da gesprochen wurden, die ich einfach abgenickt
habe, als sei das nichts. Danach haben mir für ungefähr drei Minuten erstmal
die Worte gefehlt, was aber wahrscheinlich gar nicht aufgefallen ist, denn ob
ich nun gar nichts erst im Kopf habe, oder es nicht über die Lippen bringe,
macht ja für das Gegenüber keinen Unterschied.
Am Anfang dieser Zeit habe ich auch noch gedacht: Komm Mondkind –
nicht den Kopf in den Sand stecken; wir kriegen das schon hin. Ich muss mich
jetzt halt sozial ein bisschen umorientieren. Und, wie der Urinstinkt dann
wahrscheinlich so ist, habe ich erstmal die Nähe zu meinen Eltern gesucht – was
natürlich genau falsch war, wie ich dann feststellen musste. (Und jetzt wurde
ich heute noch im Bezugspflegegespräch dafür kritisiert…).
Wenn ich die Klinik verlasse, dann ohne irgendetwas. Ohne privates
Umfeld, das in der Form trägt, wie es das bis vor zwei Monaten getan hat. Ohne
Helfersystem. Weil es denen vermutlich auch zu anstrengend geworden ist und die
lieber so tun, als wüssten sie von nichts – was auch einfach ist, wenn man eine
nicht sprechende Mondkind vor sich hat.
Und das bringt mich dann zu der Frage: Wie viel Nähe sollte ich eigentlich
in Zukunft noch zulassen? Wie viel sollte ich den Menschen um mich herum von
mir erzählen? Wirke ich so abschreckend auf die Menschen, dass sich jeder
sobald es geht, abwenden muss? Und wie viel Schmerz, der durch Verluste
entsteht, kann ich persönlich eigentlich noch ertragen? Es gab - und gibt
vermutlich immer wieder – in jeder zwischenmenschlichen Beziehung diese hellen
Momente. In denen das Licht einmal quer über alle Achsen strahlt, für einen
Moment das beschwerliche Leben auf Pause schaltet und man einfach nur einen
ganz tiefen inneren Frieden spürt. Die hatte ich auch. Mit fast jedem Menschen.
Ganz besonders schön war es mit Menschen, die mich von Zeit zu Zeit mal ganz
fest in den Arm genommen haben und mal kurz nicht nur imaginativ, sondern auch
persönlich mitgetragen haben. Aber der Schmerz über den Verlust ist immer
länger andauernd, als es die wenigen hellen Momente waren. Die ich zwar in
meinem Herzen trage, aber die doch – so sehr ich sie auch in meiner
imaginativen Schatztruhe hüte – ihren Glanz etwas verlieren, wenn man sehr oft
noch mal drauf geschaut hat.
Herr Therapeut hat heute auch die Traurigkeit bemerkt. Wie man denn
die Traurigkeit und die soziale Isolation beheben kann, wollte er wissen. „Naja…
- langfristig wird es schon so sein, dass ich mir neue Freunde suchen muss…“,
habe ich geantwortet. Und dann leise hinzu gefügt, dass ich das im Moment nicht
kann.
Obwohl ich mich nach nichts mehr sehne als Menschen, die ganz nah bei
mir sind, möchte ich das im Moment einfach nicht mehr. Ich kann es nicht mehr.
So viel, wie ich hier seit Anfang des letzten Monats verloren habe, kann kein
normaler Mensch tragen.
Ich stelle gerade fest – ich bin müde. Davon immer wieder Menschen
ganz nah an mich heran zu lassen und dann ohne einen Pieps sagen zu können
ertragen zu müssen, wie diese Menschen sich entscheiden zu gehen. Entweder,
weil sie meinen zu müssen, weil sie mich nicht mehr ertragen, weil wir nie
zusammen gehört hätten, oder warum auch immer. Irgendeinen Grund, gegen den ich
nichts sagen kann, findet Jeder.
Mondkind
Bildquelle: Pixabay
Kommentare
Kommentar veröffentlichen