Psychiatrie #42 Von Tanz, Musik, Visite und den alten Zeiten
Mittwoch.
So gar nicht mein Tag.
Gefühlt jeden Tag ein bisschen weniger.
Wasserdienst. Hat so manchmal seine Vorteile. Hatten wir ja schon
festgestellt.
Heute spinnt selbst der Kreislauf gehörig, von daher lässt mir allein
das aufgestützte Stehen an den Wasserkästen den Schweiß vom Körper rinnen,
obwohl es an dem Morgen noch frisch ist. Ich bekomme das komplette Gespräch mit
dem Pfleger, mit dem ich unterwegs bin, auch nicht mehr zusammen, aber eine
sehr interessante Sache hat er gesagt: „Sie haben Talente. Sie müssen ja welche
haben. Immerhin haben Sie so ein gutes Abi gemacht, dass Sie Medizin studieren
konnten und haben das dann auch noch gemacht. Aber man kann nicht mit der
Peitsche hinter ihren Talenten her rennen und glauben, dass man sie damit aus
Ihnen herausholt. Man muss die ganz vorsichtig ausgraben…“ Das wirft ja mal
wieder ein anderes Licht auf die Sache. Er sagte auch, dass es aktuell viel zu
viele Baustellen sind für die Zeit, die noch bleibt und kann meine Verzweiflung
hinsichtlich dessen schon nachvollziehen. Allein die Frage nach einem zu Hause
kann selbst gesunde Menschen gehörig aus der Bahn werfen, erklärt er. Wie soll
das denn erst bei Jemandem sein, der noch zehn andere Dinge um die Ohren hat?
Wenn wir schon mal da standen, dann habe ich auch gleich angemerkt,
dass ich mir wie ein Gefangener in meinem eigenen Kopf vorkomme und der Zustand
einfach nur furchtbar ist. Da ist so viel zu sagen und ich habe so viele Worte
und gleichzeitig ist da so eine Klemme in meinem Kopf auf die Menschen
zuzugehen, die ich doch aktuell so dringend um mich herum brauche. Einfach nur
um zu spüren, dass Jemand da ist.
Später am Nachmittag haben wir noch Musiktherapie. Zwar kann Musik bei
mir auch immer viel bewegen, aber noch wichtiger sind die Gespräche mit dem
Musiktherapeuten, weil der einfach sehr feinfühlig ist, vorsichtig nachfragt,
sich an das Problem heran tastet und ganz viel Zeit lässt, um die richtigen
Worte zusammen zu basteln.
Wie immer in letzter Zeit in Therapiesitzungen, habe ich die
Musiktherapie etwas gesprengt mit all den Tränen, aber es ging noch
einigermaßen… Der Musiktherapeut stellt die Vermutung an, dass ich aktuell ein
bisschen im Kindmodus gefangen bin, das einfach nur in den Arm genommen werden
möchte. Den Wunsch hat, dass sich jetzt endlich mal Jemand kümmert und es nicht
alles selbst machen muss. Und vor allen Dingen hat es Angst. Wieder nicht
gehört zu werden.
In der Musik blockiert mich irgendwie immer, dass ich ja selbst auch
noch ein Instrument spielen muss und da halbwegs harmonische Töne entstehen
sollten. Die Gitarre war extrem verstimmt, deshalb habe ich mich dann an das
Xylophon gesetzt. Aber eigentlich würde ich mich wirklich mal gern auf den
Boden vor das Klavier liegen, wenn der Therapeut spielt. Wenn er richtig in die
Tasten haut, spürt man den Boden unter den Füßen selbst ein paar Meter weg noch
vibrieren und das in Verbindung mit der Musik würde mit ziemlich großer
Sicherheit Welten in mir in Bewegung versetzen. Zumal ich dem verstorbenen Freund meine Keyboard - Stücke immer aufnehmen und schicken musste. Ein bisschen steckt er also auch in Keyboard und Klavier...
(Dazu fällt mir gerade ein… - ich kann mich erinnern, dass Herr
Therapeut im letzten Aufenthalt mal außer der Reihe vorbei kam, weil ich aus
diesem Kindmodus – Ding auch gar nicht mehr raus gekommen bin. Da meinte er,
dass das ein bisschen viel verlangt ist, dass mich Jemand mal so eben da heraus
zieht. Ich hatte halt so gedacht man könnte ein bisschen den „gesunden Erwachsenen“
ausgraben, sodass ich mich zumindest ein bisschen um mich selbst kümmern kann –
zum Beispiel Hilfe einfordern kann – das hätte schon Vorteile. Aber da ich mir seit
Dienstag ernstlich vornehme zum Dienstzimmer zu gehen und zu fragen, ob man
Herrn Therapeuten nicht fragen könnte, ob er mal noch eine Ecke Zeit hat diese
Woche und ich das aktuell einfach nicht schaffe… - wird dieser neuerliche
Versuch auch einfach nicht zu Stande kommen… )
Donnerstag.
Ist irgendwie ein voller Tag. Körperlich geht es zumindest etwas besser.
Der Tag beginnt, wie er geendet hat. Mit Musik. Und die Mondkind liegt
natürlich immer noch nicht vor dem Klavier…
Später am Tag ist tanzen. Heute tanzen wir mal nicht. Heute nehmen wir
einen von diesen Gummi – Sitzbällen. Jeder von uns soll die flache Hand auf die
Balloberfläche legen und jeweils einer von uns darf den Ball lenken. Was sich
super albern anhört, schafft Verbindung zwischen den Menschen ohne Worte. Sich
an die Hand nehmen, ohne das wirklich zu tun. Getragen werden, ohne dass Jemand
mich wirklich in den Arm nimmt. Einfach spüren, von der Bewegung der anderen am
Ball mitgetragen zu werden. Und für einen Augenblick ist es in einer Mondkind
auch mal still. Für einen Augenblick schreit mal keiner. Für einen Augenblick
sitze ich da mit geschlossenen Augen, gerührt von so viel Wärme, die die Luft
zwischen den Grenzen des Balls transportiert.
Danach ist Oberarztvisite. Mit einem Vertretungs – Oberarzt und einem Vertretungs
– Stationsarzt. Der Stationsarzt fasst kurz zusammen. „Ist auf Station aufgrund
einer Überforderungssituation auf der Arbeit…“ Ich kommentiere das überhaupt
nicht, es zeigt aber mal wieder, dass sie hier die gesamte Situation nicht
recht erfassen. Denn gerade… - gerade steht mehr der Freund im Vordergrund und
dass ich nicht weiß, wie ich mit einem blasser werdenden Bild von ihm umgehen
soll. Den Seelsorger bräuchte ich jetzt mal wieder. Oder sonst irgendwen, der
mir zeigt, wie ein Mensch bleiben kann, obwohl man ihn ein Stück weit loslässt.
Man kann den beiden Ärzten nicht verübeln, dass sie das was auf dem
Übergabe – Zettel steht als Grundlage nutzen – abgesehen davon gehen sie
nämlich einigermaßen feinfühlig vor. Dass es mir aktuell nicht gut geht, scheint
wohl auch zu den Ärzten mittlerweile vorgedrungen zu sein. Der Oberarzt regt
nochmal eine Medikamentenumstellung an, überlässt die Entscheidung aber der
Oberärztin in der nächsten Woche. Was ich davon dann rund anderthalb Wochen vor
der Entlassung halten soll, weiß ich noch nicht. Außerdem möchte er, dass ich
mir abends das Bedarfsmedikament zum Schlafen hole. Hach Herr Oberarzt… - ehe
ich abends nochmal zu den Schwestern renne, wenn das Hirn für den Tag schon
fertig ist… - da müsste er es aktuell schon fest rein schreiben, damit es
definitiv keine Diskussion zu später Stunde gibt.
Sonst war am Wochenende eine kleine Feier mit ein paar Bekannten
geplant, die aber erst nachmittags losgeht, sodass ich definitiv außerhalb
übernachten müsste. Ob das nicht einen zusätzlichen, aktuell nicht tragbaren
Stressfaktor darstellt – da ist der Oberarzt sich noch nicht so sicher. Eigentlich
möchte ich das gerade gar nicht. Ich freue mich, wenn ich Niemanden sehen muss
und sitze auch nur noch kurz zwischendurch mal auf der Dachterrasse, weil es
mir zu laut und zu viel ist. Aber natürlich herrscht da ein gewisser sozialer
Druck und ich muss ja sowieso in zwei Wochen wieder alleine zurechtkommen. Ich
muss es üben. Aber die wollen es morgen entscheiden und eigentlich bin ich
denen sehr dankbar, dass sie mich nicht zwingen, wenn ich schon so weit bin,
die Überlegung überhaupt ins Team zu tragen und nicht von mir aus so tue, als hätte
es diesen Plan nie gegeben.
Und dann kommt mal die Frage, die hier grundsätzlich eigentlich fast nie
gestellt wird – nach Suizidgedanken. Wie dankbar ich immer für diese Frage bin.
Wenn ich nicht diejenige bin, die den anderen jetzt irgendwie das Leben schwer
macht, oder sich damit in den Vordergrund drängt. Ich antworte, dass es ja seit
der Aufnahme eigentlich nicht wirklich weg war und gerade im jetzigen Zustand
das in der Ferne sicher zumindest sehr brenzlig gewesen oder tatsächlich schief
gegangen wäre, ich mir aber schon auch der Verantwortung dem Team gegenüber
bewusst bin – gerade nach dem Suizid des Freundes - und daher sagen kann, dass
hier nichts passiert. Das ist tatsächlich sehr ehrlich.
Und gerade… - bin ich wirklich dankbar, dass ich noch hier sein darf
und es hier aktuell auch am Rand des Aushaltbaren ist, aber wenigstens muss ich
keine Angst haben.
Ergotherapie fällt heute aus, gleich ist noch Bezugspflegegespräch und
dann haben wir den Tag auch erfolgreich über die Bühne gebracht. Und ganz still
frage ich mich, ob ich noch eine Chance habe, dass Tage in zwei Wochen mehr als
ein „über die Bühne bringen“ sind…
***
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Erinnerung an Uni - Zeiten. Immer unterwegs mit dem guten, alten Fahrrad... |
Ab und an frage ich mich auch, wie das Leben so aus den Fugen geraten
konnte in den letzten zehn Monaten. Und auch dann helfen die alten Tagebuch-
und Blogeinträge. Vermutlich war das Leben davor auch nicht grundlegend
einfacher – nur war die Rebellion in meinem Kopf unter fester Kontrolle. Die
Ambulanz hat das, was in den letzten zehn Monaten ein Sturm um mein kleines
Segelboot herum war, bei dem ständig das Wasser ins Boot geschwappt ist über
weite Strecken in ein unruhiges, aber händelbares Gewässer verwandelt. Für Frau
Therapeutin waren Examenszeiten immer „schwierige Zeiten“. Und in den Zeiten
hatte man sich ihrer Meinung nach eine engmaschigere Betreuung verdient. Gerade
nachdem ich endlich in die Studienstadt gezogen war und die Wege nicht mehr so
weit waren, hatte ich im Prinzip zwei Jahre lang (weil in beiden Jahren ein
Examen lag) jede bis alle zwei Wochen Therapie. Die Zeit konnte lang werden,
wenn wieder irgendwelche Dinge passiert sind, die dieses mühsam aufgestellte
Gleichgewicht ins Wanken gebracht haben, aber grundsätzlich konnte ich mit diesen
engmaschigen Wegpunkten über Jahre ganz gut leben. Ich wusste mit der Zeit
natürlich auch, wie man mit Frau Therapeutin umgehen muss. Ich wusste, wie man
welche Themen anspricht, wusste, wann ich vorher lieber noch eine Mail
schreibe, um sie einzunorden. Ich wusste, wo ungefähr ihre Grenzen sind, wie
viel ich sagen kann, wie viel Verantwortung ich auch mal zwischen uns stellen
kann, die sie noch toleriert. Und mit der Zeit sind wir ein recht eingespieltes
Team geworden – auch wenn es natürlich nicht immer reibungslos funktioniert
hat.
Und wenn es zwischendurch doch mal geknallt hat und sich akut
suizidale Krisen angebahnt haben, dann wusste ich, dass ich ihr eine Mail
schreiben konnte. Mehr ging von meiner Seite aus nicht – das wusste sie auch.
Dementsprechend hat sie mich dann zurück gerufen und mich zu einer bestimmten
Zeit in die Ambulanz zitiert. Wenn es ganz schlimm war, hat sie mich hinterher
weiter an den Arzt gereicht, damit es zumindest noch ein bisschen
Bedarfsmedikation gibt. Und wenn es sein musste, dann bin ich da mal eine
Woche, oder anderthalb Wochen jeden zweiten Tag aufgeschlagen. Da wird man
selbst hier in der Klinik nicht so engmaschig durch einen Einzeltherapeuten
betreut; das Maximum sind hier 1,5 Stunden pro Woche. Ich weiß auch nicht,
woher die Frau immer die Zeit hatte.
Das alles hat zwischendurch keine Klinikaufenthalte nötig gemacht und
ich konnte – im Gegensatz zu heute – ein relativ „normales“ Leben führen. Ich
war nicht quasi durchgehend zumindest latent suizidal und bin von einer Krise in die Nächste
gerutscht. Durch sie habe ich schon echt viel Lebensqualität dazu gewonnen.
Mondkind
Bildquelle erstes Bild: Pixabay
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