Psychiatrie #48 Sekundärer Krankheitsgewinn?


Wenn du gehst
Dann lass 'n bisschen was von dir
Hier bei mir, hier bei mir
Weil ich eigentlich schon weiß
Du fehlst mir

(Johannes Oerding – Wenn Du gehst)

***

Plötzlich ist man einer der im Schnitt fünf bis sieben engsten Menschen, deren Leben auf den Kopf gestellt wird.
Plötzlich stellen sich so viele Fragen. Warum? Ist wahrscheinlich die Drängendste. Und… - in gewisser Hinsicht die Anmaßendste.
Plötzlich ist da so viel Trauer. So viel Wut, die ich mir nur schwer eingestehe. So viel Überforderung. „Er wollte gehen. Also lass ihn gehen. Das hat mit Respekt für ihn und seine Entscheidung zu tun“ Bin ich jetzt respektlos, wenn ich ihn nicht gehen lassen will? Und wie viel ist bei solchen Ereignissen eigener Wille.
Plötzlich steht man vor philosphischen Fragen.

Plötzlich steht man vor der Frage: Wie trauert man eigentlich? Und wo trauert man? Und wie viel Zeit darf das beanspruchen? Wann muss ich wieder arbeitsfähig sein?
Plötzlich wird die Frage in den Raum geworfen, ob Trauer nicht auch ein bisschen sekundärer Krankheitsgewinn sein kann. Um sich selbst erstmal aus der Schusslinie zu bringen. Um die anderen verstummen zu lassen.
Plötzlich ist Trauer Hilflosigkeit. Sowohl für mich, als auch für die anderen. Plötzlich „kommt dann erstmal lange nichts. Einfach Pause.“

Plötzlich ist da nur noch Überforderung.

Eines der älteren Bilder...

***
Die Frage, ob ich länger in der Klinik bleiben möchte oder nicht entwickelt sich – wie bei Mondkind natürlich immer – zum Spießrutenlauf.
Herr Therapeut kam gestern nochmal ganz kurz auf den Flur angehüpft. Hat sich erstmal noch entschuldigt, dass er mich ein paar Stunden zuvor so zurück gewiesen hat. Was Mondkind natürlich die Beziehung zum Therapeuten schon wieder komplett in Frage hat stellen lassen. Hach, manchmal möchte ich mein Hirn auch gern abgeben. Und hat dann gesagt, dass ich einfach mal das Gegenteil von dem, was ich unter normalen Umständen tun würde, tun soll.

Aber letzten Endes – und das habe ich heute Morgen in der Chefpsychologenvisite getan – muss man sich ehrlich die Frage stellen, ob es wirklich die Trauer ist. Die gerade so lähmt. Hilflos macht.
Ob ich nicht schon wieder den Freund benutze, um selbst erstmal atmen zu können. Denn was auffällt ist: Sobald ich anfange über den Freund zu reden, kann man eine Stecknadel fallen hören. Plötzlich sitzen alle Menschen inklusive mir selbst ein bisschen in Gedanken versunken, still ins Leere schauend auf ihren Stühlen und man kann die Ratlosigkeit fast spüren. Niemand traut sich, Anforderungen zu stellen, die mir alle in den letzten Wochen auf emotionaler Ebene zu hoch waren. Kein Arzt – selbst wenn er das für falsch hält – würde es sich vermutlich trauen, sich über eine trauernde Freundin hinweg zu setzen und sie einfach wieder 400 Kilometer durchs Land und zurück auf die Arbeit zu schicken. Würde ich als Ärztin auch nicht tun.

Die Gegenüberlegung dazu ist: Kann Trauer nicht einfach mal Trauer sein? Muss man da sofort wieder irgendetwas hinein interpretieren? Muss man mich und ich mich selbst sofort wieder – wenn auch indirekt – als manipulatives Wesen sehen, dass alle Behandler um den Finger wickelt…? Und selbst wenn es erstmal Ablenkung von mir selbst und den eigenen Sorgen ist; wenn ich mir damit Raum zum Atmen schaffe – ich habe mich jetzt auch lange genug mit Hochgeschwindigkeit gedreht.
Und ist das nicht vielleicht sogar normal, dass Trauer erst nach Wochen kommt? Wenn man anfängt zu begreifen. Dass es jetzt eben ist, wie es ist. Dass er nicht mehr wieder kommen wird. Dass ich mich dennoch mit jeder Faser meines Körpers weigere, ein Leben ohne ihn leben zu müssen.

Und was ist die Konsequenz? Sollte man mir noch ein bisschen Ruhe geben und Zeit, in der ich Stück für Stück akzeptieren muss dass ich – wenn ich ein lebenswertes Leben haben möchte – anders weiter leben muss, als vorher und das bestimmt auch noch oft wehtun wird? Oder sollte man mir umgekehrt in den Hintern treten, mich zurück in den Alltag schicken und hoffen, dass ich mit all dem neuen Rüstzeug endlich mal schwimmen lerne?

Es gibt auch Menschen, die die Trauer kritisieren. Eben weil sie so hilflos macht. Weil da niemand mehr etwas sagen kann. Was ich verstehe.
Ich möchte die Menschen nicht hilflos machen. Aber das Reden über den verstorbenen Freund ist im Prinzip die Antwort auf die Frage, ob man mir jetzt etwas Gutes tun kann, die Herr Therapeut letztens mal in den Raum schmiss und dort erstmal so stehen ließ. Man kann Gutes tun. Das sind keine großen Sachen. Man muss dafür kein Psychologe sein, oder studiert haben. Mich in den Arm nehmen und physisch ein bisschen mittragen. Sagen: „Hey Mondkind, ich habe auch keinen Rat für Dich, aber ich sehe Dich.“ Oder ein „Hey Mondkind, erzähl doch mal Geschichten über Euch.“ (Ich habe tatsächlich nie viel über ihn geredet, sodass manche Menschen das jetzt überrascht, dass es tatsächlich so einen Menschen in meinem Leben gab, aber letzten Endes haben wir die letzten vier Jahre darüber diskutiert, ob wir jetzt eine Beziehung daraus machen oder nicht und weil ich mir nie sicher war mit uns und immer Angst davor hatte, habe ich den Menschen keine Fläche gegeben, darüber zu urteilen). Vielleicht ist es nicht richtig, aber mir tut es auch einfach gut, über ihn nach sieben Wochen mehr oder weniger Stille reden zu können und ihn dadurch noch ein Stück festzuhalten. Aber man möge es mir auch sagen, wenn ich damit unbeabsichtigt Menschen verletze.

Im Endeffekt gibt es noch keine Entscheidung hinsichtlich der Klinik. Und was ich bräuchte wäre dabei Niemanden, der mir die Entscheidung abnimmt. Dass das nicht geht, habe ich mittlerweile begriffen. Sondern Jemanden, der mit mir ergebnisoffen und vorurteilsfrei darüber diskutiert. Dem ich so weit vertrauen kann, dass ich alle Argumente anbringen kann. Und, der mich ein bisschen einschätzen kann. Der sagen kann: „Hey Mondkind ist hart, aber ist die Wahrheit…“ Oder auch sagen kann: „Mondkind, das ist ein bisschen übertriebene Interpretation…“

Ich werde den Stationsarzt heute mal zumindest nicht suchen. Bis jetzt hat er mich noch nicht eingesammelt. Und dann einfach mal abwarten. Im Notfall muss er halt dieser Gesprächspartner werden. Obwohl ich ihn kaum kenne. Vielleicht gelingt es mir auch noch irgendwie das bis Freitag zu strecken. Wenn ich dann endlich, endlich mal wieder eine Stunde bei Herrn Therapeuten habe. 

Mondkind

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