Psychiatrie #26 Genau einen Monat danach


See, all of my plans, they were silenced over night
All that I know was paralyzed

(Delta Goodrem – Paralyzed)

Nachts um drei wache ich das erste Mal auf. Heute vor einem Monat. Da war die Welt gerade noch okay. Da hatte ich keine Ahnung, was in drei Stunden sein würde. Dass nichts mehr sein würde, wie es mal gewesen ist. Katastrophe und einzige Rettung die möglich war, zugleich.
Die ersten Tränen des Tages.

Kurz nach 6 Uhr in der Früh habe ich die Nachricht gelesen. Vor genau einem Monat. Saß ich mit meinem Kaffee und meinem Müsli auf dem Sofa und habe nichtsahnend das Internet eingeschalten. Nachricht von einer unbekannten Nummer. Und bevor ich nachgeschaut habe, wusste ich: Jetzt ist es offiziell. Das, was ich schon seit Tagen vermutet habe. Du lebst nicht mehr.
Für einen ganz kurzen Augenblick habe ich mir überlegt, ob das jetzt so intelligent ist, arbeiten zu gehen. Aber etwas Besseres ist mir nicht eingefallen. Darf man zu Hause bleiben, weil der beste Freund sich das Leben genommen hat? Wie meldet man sich überhaupt krank? Wo muss ich denn anrufen? Und woher soll ich denn eine Krankmeldung organisieren, wenn ich nicht mal einen Hausarzt habe?
Am liebsten hätte ich das getan, was bei emotionaler Überforderung immer eine gute Idee ist – Blog schreiben. Aber dafür war keine Zeit mehr. Also mit Chaos im Kopf den Berg hoch laufen und versuchen zu verbergen, dass man eigentlich die ganze Zeit nur weint.

Heute sitze ich schon im Aufenthaltsraum, habe mir einen Instant – Kaffee gekocht und habe den neuen Song von Delta Goodrem im Ohr. Mit dem Auge verfolge ich den Sekundenzeiger, frage mich, wann wohl genau die „Pause – Taste“ gedrückt wurde und ich wusste: Er kommt nie wieder zurück. So viele Dinge sind nur noch Erinnerungen. So viele Dinge, die wir noch zusammen erleben wollten, werden wir nicht mehr machen. Es ist ein endgültiges Ende von diesen Gesprächen, in denen wir beide die Seele nach außen gekehrt haben.
Und ich… - habe mich von der ersten Sekunde an verantwortlich gefühlt. Bis heute.

Kurz nach sieben sitze ich vor meinem PC, unfähig irgendetwas für die Arbeit zu tun. Aber wenigstens habe ich mich ein kleines bisschen beruhigt. Halb 8 kommt die erste Kollegin. Schaut mich an. „Mondkind, hast Du geweint…?“ Und dann… - ja, dann geht das wieder los. Sobald man mich ein mini – bisschen anschubst. Was soll das geben im Tagesverlauf?

Heute nehme ich meine Kaffee – Tasse und setze mich leise zu den anderen, die mittlerweile auch schon wach sind, auf die Dachterrasse. Mein Hirn explodiert, aber ich schweige natürlich. Gesellschaft tut aber irgendwie gut, wenn ich nicht reden muss.

Viertel nach acht. Ich wollte eigentlich die Kollegen alleine in die Frühbesprechung schicken, aber das funktioniert so nicht. Es ist Freitag, da ist große Frühbesprechung und ich soll mitkommen.
Wir sind etwas zu spät und aufgrund der Corona – Situation müssen einige vor der Tür warten und dem Chef lauschen. Der Epilepsie – Oberarzt kommt auch zu spät, stellt sich neben mich. Schweigt eine Weile. „Mondkind, Du siehst komatös aus…“ Ich sage gar nichts dazu. Jedes gesprochene Wort würde mich jetzt wieder zum Weinen bringen. „Mondkind, willst Du darüber reden…?“, fragt er. „Nein…“, sage ich.
Wie immer gehen die Kollegen von der Reha im Anschluss an den allgemeinen Teil einen Raum weiter und wir dürfen dafür in den Besprechungsraum, vor dem wir eben noch standen. Ich hoffe, dass man mich nicht ansprechen wird, aber da habe ich die Rechnung ohne den Chef gemacht. „Mondkind, was hattest Du denn für spannende Fälle diese Woche…?“, fragt er. Es dauert eine Weile, bis ich überhaupt sagen kann, dass ich ein bisschen Epilepsie und Rückenschmerzen hatte, was glaube ich nicht ganz der Wahrheit entspricht. Aber mein Hirn ist einfach leer. „Mondkind, Du siehst irgendwie deprimiert aus…“, sagt der Chef. Ich kommentiere das jetzt ganz sicher nicht. Und er fragt den Nächsten.

Acht Uhr. Heute versammeln wir uns im Gruppenraum für die Morgenrunde und Medikamentenvergabe. Die Augen immer noch auf der Uhr. Ich muss mich bemühen nicht zu weinen in der Morgenrunde. Ich sehe Herrn Therapeuten kurz über den Flur hüpfen. Ich hoffe, er hat das auf dem Schirm, dass wir uns heute sehen wollten.
Die Tränen kommen dann zum Glück erst zurück auf dem Zimmer beim Frühstück. Da kann ich das nicht mehr zurück halten, obwohl die Zimmernachbarin mit auf dem Zimmer ist.

Gegen viertel nach elf ruft der Epilepsie – Oberarzt wieder an. Ich habe bis dahin versucht irgendetwas wie eine Visite zumindest bei einigen meiner Patienten zu machen. „Mondkind ich komme mal kurz hoch für die Epilepsie – Patienten…“ Wenig später gehen wir gemeinsam den Flur runter. „Mondkind es geht Dir wirklich gar nicht gut.“ Ich kommentiere das nicht.

Mittagessen. Mit der Mitpatientin. Nicht viertel nach elf, aber nur wenig später. „Die Mondkind hat sich also heute entschieden mal einen Trauertag einzulegen. Man könnte das ja auch so machen, dass man mal kurz daran denkt und sich dann wieder anderen Dingen widmet. Aber Du hast heute offenbar vor, Dich darin hin und her zu wälzen…“
Ich bin kurz davor, ihr die Meinung zu geigen. Aber ordentlich. Wenn sie sich um ihren eigenen Kram mal so sehr kümmern würde, wie ständig um meinen… Hat sie einen Angehörigen oder Freund durch einen Suizid verloren? Nein. Also ist Klappe halten angesagt. Ich kann das nicht mehr hören. Dieses „Hake das mal ab, der Freund ist tot und fertig…“
Dann erinnere ich mich aber daran, dass sie heute Nachmittag noch gut zu tun hat, gleich ohnehin weg ist, ich in Ruhe meine Briefe an den Freund weiter schreiben kann und das vermutlich auch nichts bringt außer Streit, sich aufzuregen. 



Nachmittag. Ich überlege. Ist das jetzt ein Grund Herrn Therapeuten mal eine Mail zu schreiben und um seinen Rat zu bitten? Ich spüre, dass das diesmal irgendwie eine Nummer zu groß für mich ist. Und ich merke, dass ich jetzt mal langsam Jemanden brauche, der etwas dazu sagen kann. Wie soll ich mich jetzt verhalten? Was kann ich jetzt machen? Muss ich so arbeiten? Wird das wohl erwartet?
Ehrlich gesagt weiß ich nicht mehr, was ich in die Mail geschrieben habe. Aber zehn Minuten später – es muss so gegen 16 Uhr gewesen sein - hat das Telefon mit einer externen Nummer geklingelt und ich bin ins Blutabnahmezimmer geflüchtet. Da saß ich dann auf einem Stuhl, die Beine angezogen und die Füße auf dem Hocker vor mir abgestellt. An das Gespräch an sich kann ich mich nicht mehr gut erinnern. Ich weiß nur, dass er sofort gesagt hat, dass ich nicht Schuld bin, mir vor Ort Jemanden zum Reden suchen soll und dann einfach noch ein bisschen am Telefon geblieben ist. Es war eines der ganz wenigen Gespräche, die mal keine therapeutischen Ansprüche hatten. Einfach mit aushalten. Dasein. Mittragen. Und irgendwann ist mir aufgefallen, dass ich zitternd, kaltschnass geschwitzt und weinend in diesem Zimmer saß.

Heute um diese Zeit sitze ich tatsächlich bei Herrn Therapeuten im Büro. Allerdings hält er eine kleine Ansprache über den Inhalt der Gespräche aus der letzten Woche, die ihm zugetragen worden sind. Zugegebenermaßen hätte das vermutlich auch nichts gebracht zum gefühlt 723. Mal (man merkt, meine Lieblingszahl) über diese Situation von vor einem Monat zu sprechen. Außer, dass ich das starke Bedürfnis hatte, mir nochmal ein paar Dinge von der Seele zu reden. Aber Therapiezeit ist ja kostbar und heute haben wir therapeutische Ansprüche. Heute reicht es nicht, dass er einfach nur da ist. Und aufpasst. Auf mich.
Wir machen eine Imaginationsübung, die furchtbar anstrengend ist. Weil Herr Therapeut plötzlich als Beschützer der „kleinen Mondkind“ mit durch mein Leben turnt. Das ist so ein wahnsinnig schönes und beruhigendes Bild. Es war tatsächlich so oft in der Vergangenheit der große Wunsch mal Jemanden an der Seite zu haben, der mich sieht. Und der dann nicht – wenn die Existenz in diesem System unangenehm geworden ist – kalte Füße bekommen hat und man am Ende mit noch mehr Desaster als vorher dastand, wenn man mal ein kleines bisschen mutig war. Das ist so zwei, drei Mal passiert. Und gleichzeitig macht mich das so sehr traurig. Dann sehe ich die „kleine Mondkind“ vor mir, die ganz vorsichtig ihre Kinderhand in seine legt, noch nicht so richtig wissend, auf was sie sich da einlässt und irgendwie schon damals sehr misstrauisch. Und dann… - sehe ich die „erwachsene Mondkind“ daneben stehen, die wir auch mit ins Bild geholt haben. Absolut ungläubig über das, was hier gerade passiert und völlig überfordert damit, nicht nur Verantwortung für sich selbst, sondern auch noch für die „kleine Mondkind“ übernehmen zu müssen, die so verletzt und auch schon damals so müde vom Leben ist (das ist tatsächlich im Tagebuch dokumentiert…), dass man die beiden unmöglich zusammen durchs Leben schicken kann.
„Wir“ passen auf Dich auf… - sagte Herr Therapeut. Er meinte wohl eher: „Ich passe auf Euch beide auf…“ Es ist schön. Sehr schön. Für den Moment. Wenn man sich in dieses Bild fallen lässt. Und mal kurzzeitig vergisst, dass ein Herr Therapeut nicht mit uns durch Leben gehen kann. Und dann… - landen wir wieder in der Realität. Und weder die „kleine Mondkind“, noch die „erwachsene Mondkind“ sehen sich in der Lage, mit etwas wie Freiheit umzugehen.

Das erinnert mich auch wieder an ein Gespräch mit der Pflege gestern Abend, das ziemlich spontan entstanden ist. Darin hat mich die Pflegerin bezeichnet als ein „Blatt, das umher weht und nirgendwo festwachsen kann“. Dadurch, dass ich selbst so unsicher bin und an Werten festhalte von denen klar ist, dass die zu meinem Untergang führen werden, versuche ich den Halt immer im Außen zu finden. Aber das wird nicht funktionieren. Jeder Mensch kann sich ja schon kaum selbst tragen; das überfordert das Außen einfach, wenn Jemand für einen erwachsenen Mensch – sei das Partner, Freund oder Arbeitskollegen – bitte auch noch die Verantwortung übernehmen soll. Deswegen glaubt die Pflegerin, hat das auch mit der potentiellen Bezugsperson nicht geklappt. Irgendwann ist diesem Menschen einfach aufgegangen, dass er das nicht zusätzlich kann.

Und das führt uns wieder zu der Frage: Was machen wir denn jetzt…? Auf jeden Fall lässt das alles mal ganz, ganz viel Sehnsucht zurück. Nach Menschen, die im realen Leben einfach wirklich mal bleiben. Und die es für eine Mondkind in der Form in der sie das braucht, vermutlich nie geben wird.

Später am Nachmittag. Das Telefon klingelt wieder. Der Epilepsie – Oberarzt. „Mondkind, wegen des Epilepsie – Patienten…“ und wenig später. „Und Mondkind, ich frage Dich nochmal: Willst Du darüber reden…?“ Ich wusste es nicht. Ich sollte ja mit wem reden, hatte Herr Therapeut gesagt. Aber war damit ein Kollege gemeint? Der ja aber sowieso in zwei Wochen das Krankenhaus verlässt? Viel kaputt machen, kann man da nicht mehr. Und als Mensch mag ich ihn eigentlich echt ganz gern. Er ist sehr ehrlich, aufrichtig und immer besorgt um seine Mitmenschen. „Mondkind, ich sitze unten im Keller, jetzt komm runter, ja?“, sagt er, während ich noch überlege. „Ich komme…“, sage ich ganz leise.
Wir haben bestimmt 10 Minuten gebraucht, bis ich in der Lage war zwei Sätze zu formulieren. Auch er war erstmal etwas geschockt. „Und jetzt fühlst Du Dich schuldig…“, sagt er. „Ja, das auch…“, habe ich gesagt und dann seinem Vortrag über die Handhabe schwer depressiver Patienten gelauscht und dass man da mit Reden gar nicht weiter kommt, was mir letzten Endes sagen soll: Ich hätte mich auf den Kopf stellen können und hätte ihn dennoch nicht retten können.

Heute habe ich mir einen Kaffee geholt und schreibe den Blog. Mit vielen Tränen. Immer noch so ungläubig über das, was da passiert ist. Oh und bitte… - kann mir Jemand versichern, dass dieses Herz einfach nicht auseinander brechen kann… ?

An dem Abend habe ich im Grund den ersten Brief an den Freund geschrieben. Der dann zum Blogeintrag geworden ist. Die anderen sind alle hier auf Papier entstanden und liegen in meinem Nachtschrank. 

***

Morgen ist Oberarztvisite. Ich bin ja mal gespannt. Nachdem es hier einen umfangreichen Austausch im Team gegeben haben zu scheint und zumindest Herr Therapeut wusste, was das Thema der letzten Oberarztvisite war… - vielleicht wird das ja mal für mich dezent entspannter…
Noch steht das Leben still und wartet auf den Reset. Das neue Lied von Delta Goodrem passt auf meine Situation, als sei es für mich geschrieben worden. Und wie es in einem Monat weiter gehen soll… - das weiß ich einfach nicht. Aber ich kann mich auch nicht mehr damit stressen – das habe ich ja vor ein paar Tagen schon mal festgestellt. Im absoluten Notfall und wenn ich mich bis dahin gar nicht sortiert bekomme, haben wir es eben nochmal versucht. Und da es so viel schlimmer, als es zuletzt im Ort in der Ferne war nicht mehr werden konnte, waren wir vielleicht nicht schlecht im „fishing for moments“. Was nicht heißt, dass ich diese Katastrophe gebraucht hätte, die passiert ist. Die Zeit auf der geschlossenen Psychiatrie. Und die Trauer und Vorwürfe, die alles unter einem Grauschleicher verschwinden lässt, auch nicht. Aber ich bin mir sicher, wir hatten hier mehr gute Momente, als wir dort hätten haben können. 

Mondkind

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