Psychiatrie #30 Ein bisschen Rebellion


Die Welt ist wieder eng geworden.
Innerhalb von Minuten. Und noch mehr über Nacht.
Gerade als ich das Gefühl hatte, dass es doch etwas wie einen Zipfel Leben geben kann. Auch für eine Mondkind.

Die Tage, an denen wir aufstehen und sicher sind, sind gezählt. Die Tage, in denen Menschen mit denen ich zwischendurch mal reden kann, hier sind. Die auffangen können. Vielleicht.
Ich habe den Dienstplan nochmal analysiert. Innerhalb von sechs Tagen sind drei Dienste zu absolvieren, davon zwei erste Dienste und ein Stroke Dienst am Sonntag – letzteren hatte ich gestern Abend noch übersehen.

Die inneren Kinder gehen auf die Barrikaden. Das Bild, das Herr Therapeut gemalt an, auf dem ich mit der „kleinen Mondkind“ am Strand sitze und ihr zuhöre, verliert seinen Frieden. So viel Verzweiflung des Kindes, so viel Wut, so viel Rebellion gegen das Leben, dass es kaum auszuhalten ist. So viel Sehnsucht danach endlich mal wieder ein bisschen Unbeschwertheit fühlen zu dürfen.
Und nachdem das Kind müde davon ist, so viel zu schimpfen und dabei auf den Strand auf und ab zu laufen, setzt es sich wieder ganz still neben mich. Neben die „erwachsene Mondkind“, die auch schon Tränen in den Augen hat.
„Weißt Du Mondkind, vielleicht war alles was wir erreichen konnten, noch ein Sommer. Noch ein Mal kurz die Sonne fühlen. Das Leben. Den Anflug eines friedlichen Sommermorgens. Vielleicht war alles was ging, noch ein Mal gehalten zu werden. Einmal noch die Unterstützung um uns herum wahrnehmen. Vielleicht musste es noch ein Mal ganz kurz hell werden; irgendwie okay. Damit wir zumindest sagen können, dass es sich gelohnt hat, all die Strapazen davor durchzuhalten.
Und vielleicht fallen manche Menschen durchs Raster. Vielleicht ist das einfach so.“

Die erwachsene Mondkind schaut raus aufs Meer. Auf die kleinen Boote in der Ferne. Auf die Sonne, die am Himmel steht.
„Bist Du sicher, Mondkind – Kind…?“
„Ja Mondkind. Ich mach das nicht mehr. Wirklich nicht… Schau doch mal wie es war in den Wochen, bevor das erstmal ein Ende gefunden hat. Dieser Wahnsinn. Haben wir etwas anderes als Angst und Stress wahrgenommen? Schien die Welt etwas anderes zu sein, als eine einzige Bedrohung? Haben wir auch nur einen Sonnenstrahl auf der Haut gespürt? Sind wir eine Nacht nicht aufgewacht und hatten irgendetwas im Kopf, das man auf der Arbeit dringend erledigen muss?“
Und dann lehnt Mondkind – Kind den Kopf vorsichtig an Mondkinds Schulter.
„Es tut mir leid Mondkind. Ich weiß, dass das nicht Deine Idee von einem glorreichen Assistenzarztleben war… ist. Ich weiß, dass Du es trotzdem immer irgendwie machen wolltest. Und, dass Du diesen Job grundsätzlich magst, wenn es nicht so überfordernd wäre. Aber das waren nie wir. Niemals. So mutig, wie ein Assistent sein muss, waren wir mit unserem Katastrophen – Hirn nie. Dass das der Punkt ist an dem wir scheitern, war doch schon ewig klar. Oder nicht…?“
„Wie erklären wir das hier? Wie kommunizieren wir das…?“
„Wer ist die erwachsene Mondkind…?“

***
Bild vom Spaziergang gestern...

Am Morgen sitze ich auf der Dachterrasse mit einem Kaffee. Starre ein bisschen ins Leere. Als Herr Therapeut angehüpft kommt, weil er wen sucht. Er schaut mich an. Und ich schaue ihn an. Es gibt Redebedarf. Und seine Augen verraten: Das weiß er auch schon. Aber seine Augen verraten auch: Er ist im Stress. Wir sehen uns ein paar Sekunden an, unschlüssig. Soll ich etwas sagen? Soll ich ihn um eine Ecke Zeit bitten, die er nicht hat? Und fragt er dann wieder, was er jetzt genau machen soll? Was ich auch nicht weiß, aber ich habe einfach Angst. Mit Mondkind – Kind. Weil die so sehr gegen das Leben rebelliert vor lauter Angst, schon wieder nicht gesehen zu werden.
„Es gibt Stress wegen der Dienstpläne…“, sage ich irgendwann. Ganz unspezifisch. Daraus kann er machen, was er möchte. „Das habe ich gelesen“, sagt er. Und schlägt vor, das Dienstplan – Problem bis zum nächsten Einzeltermin im Schrank einzuschließen. Etwas anderes als zu versuchen, mir davon nicht das Wochenende kaputt machen zu lassen, kann ich vermutlich auch nicht machen.

Später telefoniere ich noch mit einer ehemaligen Kommilitonin. Normal ist das nicht, sagt sie. Sie fragt mal die Neurologen bei ihr am Haus. Wie es da so aussieht. Mit Dienstbelastungen. Ich bin auch echt gespannt, was bei dem Gespräch am Donnerstag raus kommt, wie der Herr Psychiater das so einschätzt.

Stationsarztvisite.
Viel zu sagen gibt es nicht. Wir überlegen kurz, wie wir das Problem mit einem Tag Krankschreibung, der noch zu überbrücken ist nach der Entlassung lösen könnten und ich erläutere kurz das Dienst – Problem. „Hat das jetzt negative Gedankenschleifen bei Ihnen ausgelöst?“, fragt die Ärztin. Keine Katastrophen vor dem Wochenende. „Naja, es ist schwierig“, gebe ich mal ganz unspezifisch zurück, was sie so stehen lässt.

Vermutlich war gestern allgemein nicht so der beste Tag. Nachdem ich ja letztens ausgeführt habe, dass ich meine Themen so gut verteilt habe, hat mir der Seelsorger gestern erstmal erläutert, dass er jetzt einen Monat Urlaub hat. Nicht, dass ich den Leuten ihren Urlaub nicht gönne, aber für mich ist es jetzt gerade trotzdem ungünstig. Er hat mir gestern nochmal rückgemeldet, dass sich viel bewegt hat in den letzten Wochen. Und er selbst hat mir auch viele Tipps zum Umgang mit der Situation auf den Weg gegeben; vielleicht muss ich den Rest jetzt auch einfach alleine händeln.

Gleich gehe ich erstmal mit einer Freundin im Wald spazieren. Ob es eine gute Idee ist, weiß ich noch nicht. Ob ich jetzt echt einen Kopf für andere Menschen habe. Aber dann gibt es bald neue Fotos für Euch.

Allen Lesern wünsche ich ein schönes und nicht zu heißes Wochenende!
Mondkind

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