Psychiatrie #27 Mondkind - Kind und Oberarztvisite


Ich habe heute Nacht nochmal ein bisschen über die Therapiestunde nachgedacht.
Herr Therapeut hat einen Trick angewendet, mit dem man die Mondkind eigentlich immer einfangen kann. Indem er einfach am Beginn der Stunde sofort „Mondkind – Kind“ angesprochen hat. Da braucht er meistens keine drei Minuten, um die Mondkind an den Rand des Tränenmeers zu bringen. Dass die Kinder gesehen und gehört werden, ist nämlich eine absolute Ausnahmesituation. Und, dass Jemand auch sofort eingreift, wenn Kritiker dazwischen springen und dem Kind wieder den Mund verbieten.

Er hat erläutert, dass es Aufgabe der nächsten Wochen sein wird, sich ein bisschen mehr um die Kinder zu kümmern und darauf zu schauen, was die brauchen.
„Du hast mir ja jetzt schon einen Vertrauensvorschuss gegeben. Und der hat Dich sogar jetzt hierhin gebracht zur mir in die Situation, die Du – nach eigener Aussage – gerne wolltest. Daher mein Angebot, dass wir da jetzt genau hinschauen.“ Und dann kam der Satz, der mich irgendwie echt bewegt hat:  „Lass uns die Gelegenheit, dass Dich die erwachsene Mondkind wirklich hierhin gebracht hat nutzen, damit wir schauen können, was Du brauchst und was Du fühlst.“ Das ist nicht nur absolute Wertschätzung des Kindes, sondern auch irgendwie von der „erwachsenen Mondkind“. Zwar habe ich so viel gar nicht dazu getan, aber immerhin musste ich immer noch handeln. Zwar mit dem Therapeuten an meiner Seite, aber doch auch mit mir selbst in die Notaufnahme gehen, obwohl sich wirklich alles gewehrt hat. Und am Tag davor war auch ich diejenige, die mitten in der Nacht auf dem Hauptbahnhof der nächst größeren Stadt gestanden hat in dem Wissen, dass wir jetzt in die Studienstadt zurück fahren, nicht wissen was da kommt, wann wir zurück kommen und wie die Welt dann aussieht.

Und wer kann sich eigentlich an den letzten Blogpost vor der Katastrophe erinnern? „Zwischen Mondkind und Mondkind – Kind“ hieß der vom 29.06.2020.

„Mondkind – Kind sitzt im Schneidersitz. Starrt immer noch raus. Auf die Wolken, die mittlerweile durch den Sonnenuntergang rot gefärbt sind. „Weißt Du was… - ich wäre so gern in der Zeit heute vor einem Jahr. Da war es nicht schlimm, Mondkind – Kind sprechen zu lassen. Heute will das keiner mehr hören. Das ist irgendwie unanständig. Man muss ja ach so erwachsen sein…“
„Wie sollen wir das denn organisatorisch hinkriegen…?“
„Ja ich kenne die Leier. Es geht sich zeitlich nicht aus, wir können nicht den Job verlieren, weil wir ja unsere Brötchen verdienen müssen, Du hast keine Kraft für noch einen Umzug, bla… - ich weiß…“
Lange Pause.
„Ich glaube ich gehe ins Bett Mondkind.“
„Mach das. Ich räume hier noch auf, dann komme ich auch. Vergiss Deinen Tee nicht in der Küche, ja...?“
Und dann springt Mondkind – Kind auf, schlurft in der Küche vorbei und anschließend in Richtung Schlafzimmer.“

Jetzt ist es nicht unanständig, auf das Kind zu schauen. Jetzt wird das sogar gewollt. Kinder dürfen gefragt und gehört werden.
Und während ich da so in meinem Bett liege und reflektiere, steigen mir die Tränen in die Augen und es ist ein ganz wärmendes und erhebendes Gefühl, das da langsam hoch kriecht. Die erwachsene Mondkind und Mondkind – Kind müssen mal nicht gegeneinander kämpfen. Sondern rücken vielleicht mit Hilfe von Herrn Therapeuten ein bisschen näher aneinander.

Am nächsten Morgen vor der Morgenrunde sehe ich Herrn Therapeuten über den Flur rasen. Und für einen ganz kurzen Augenblick spüre ich das Stechen in meinem Herz. Und ob nun gewollt oder ungewollt, aber das ist immer das Zeichen – wir rutschen auf eine Ebene von ganz tiefem Vertrauen. Was bei Personen, die ich im professionellen Rahmen kennen lerne, immer irgendwann zur Schwierigkeit wird. Aber bis dahin sind es noch vier Wochen. Und wie es dann weiter geht, wissen wir sowieso noch nicht.

Mondkind morgens um sechs mit Katze auf dem Schoß. Es sind echt die ruhigsten und oft schönsten Minuten des Tages.


Ansonsten ist im Verlauf des Morgens  Oberarztvisite. Und obwohl ich ja nun selbst vom Fach bin… - ich hatte so Herzrasen und Angst davor nach den letzten Malen. Aber… - heute hat mal wirklich Keiner irgendein blödes Kommentar geäußert, das mich wieder für den Rest des Tages aus der Bahn geworfen hat. Im Gegenteil… - ich hatte das Gefühl, dass da mal ein basales Verständnis für mich besteht. Allerdings habe natürlich auch ich die heißen Themen etwas umschifft. Die Worte „Arbeit“ und „Entlasstermin“ habe ich mal kurzzeitig aus meinem Wortschatz gestrichen.
Nachdem ich dann im „Wie geht es Ihnen?“ – Teil ausgeführt habe, dass sich die Stimmung aktuell ziemlich rasant verschlechtert nach den Strapazen der letzten Tage mit dem Verstreichen der ersten Monatsmarke seit der Info über den Tod des Freundes, sowie dem Monatswechsel (bei dem sie selbst angemerkt hatte, dass ich den auf dem Kalender ja nach meinem Plan nicht mehr hätte sehen sollen), hat sie sogar eine erstaunlich ruhige Diskussion über das Thema Suizidalität angefangen. So ganz recht war mir das mit der ganzen Riege im Hintergrund nicht, aber ich habe zumindest ein bisschen was dazu gesagt – eben weil es für mich auch so ein belastendes Thema ist und das müssen die ja wissen und auch, dass man daran noch sehr viel arbeiten muss im nächsten Monat. Deren Theorie zu dem Thema ist jedenfalls, dass das alles ein sehr destruktiver Bewältigungsmechanismus ist und sich von selbst bessern dürfte, wenn ich anfange mehr Gefühle zuzulassen und den Bewältigungsmechanismus nicht mehr brauche.
Ehrlich gesagt… - ob ich die Logik verstehe, weiß ich noch nicht. Aber es war mir wichtig und entlastend zu hören: Die haben es auf dem Schirm und sie haben einen Plan, wie es besser werden soll. Ich habe ja nun nicht unfassbar viel Ahnung von Psychiatrie, also hoffe ich mal, dass sie Recht haben.

Ansonsten war am Nachmittag noch Bezugspflegegespräch. Irgendwie ist die Frau echt super strukturiert, schreibt ständig Listen mit mir und lässt auch nicht sehr viele Ausreden durchgehen. Jedenfalls arbeiten wir dadurch gerade sehr konsequent an einigen praktischen Problemen und Baustellen, was ich alleine so wahrscheinlich auch nicht geschafft hätte.

Morgen Früh geht der Tag nach der Skills – Gruppe (okay, das wird super knapp, aber ich würde da gern auch mal hingehen…) wieder bei Herrn Therapeuten los. Mal sehen, was die Stimmung bis dahin macht. Ob sich das stabilisiert. Gerade macht es mich echt weniger verrückt als sonst, weil da ja morgen Früh der Anker ist und zur Not müssen wir eben darüber reden. Frau Oberärztin wollte sowieso, dass ich ihm erzähle, wie genau der Suizid geplant war. Ob ich das machen will, weiß ich noch nicht... Eigentlich nicht. Das ist so ziemlich das Intimste, was man erzählen kann. Für meine Begriffe.

Mondkind

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