Psychiatrie #35 Über Menschen und Gespräche


So allmählich gleitet mir das Leben unter den Fingern weg. Ist das Gefühl. Nach der Dienstplan – Aktion und den weniger erquicklichen Familientelefonaten, hat es gestern mitten in der Nacht die nächste Mail gegeben. Ich fange an zu lesen. Nach ein paar Sätzen schaue ich auf den Absender. Habe ich mich nicht verlesen… ? Ich fange noch mal von vorne an. Und nach ein paar Sätzen nochmal. Lese zu Ende. Atme ein paar Mal ein und aus. Und… lese nochmal.
Wenn ich mit ein was nicht gerechnet hätte – und schon mal gar nicht zum jetzigen Zeitpunkt – dann damit.
Plötzlich wird so Vieles klar. Die Parallelen auf der einen Seite, die Unterschiede auf der anderen Seite. Die Ambivalenz, die es immer war. Einerseits das tiefe Verständnis, andererseits die Ansprüche, die gestellt wurden. Die Nähe auf der einen, die Distanz auf der anderen Seite.
Und plötzlich begreife ich mitten in der Nacht: Die nächste Säule bricht weg. Weil die selbst in sich so instabil ist, dass sie sich kaum selbst tragen kann.

Am Morgen steht erstmal das Bezugspflegegespräch auf dem Plan. Die Letzten waren ja ganz gut – heute werden da wieder strengere Töne angeschlagen. Dass das Dienstplanproblem mich so beschäftigt hat, findet man nicht gut. Ich entgegne, dass ich echt froh bin, dass ich hier darüber informiert wurde. Da besteht zumindest noch die Chance, gemeinsam mit den Behandlern zu überlegen, wie man das lösen kann – in der Ferne wäre das mit hundert prozentiger Sicherheit Auslöser einer größeren Krise gewesen.
Auch für mein Geschreibsel muss ich mich (mal wieder) rechtfertigen. Eigentlich ist das Schreiben das Einzige, was von der „einstigen Mondkind“ noch übrig geblieben ist. Ich habe geschrieben, seitdem ich die ersten Buchstaben auf Zeilen schreiben konnte und eigentlich wollte ich beruflich immer irgendetwas daraus machen. Manche Menschen haben mir geraten es zu nutzen – niemand hat wohl gemeint, dass ich einen Blog schreiben soll; manchmal kreativer, manchmal weniger kreativ. Aber nun denn… - wann hat die Mondkind schon mal etwas im Leben getan, das sie selbst richtig fand und das Umfeld auch…? Selten. Auf jeden Fall geht es mir dezent auf den Zeiger…
Danach schreiben wir mal die Entlassplanung schwarz auf weiß auf einen Zettel. Ich merke, dass ich in den „Arbeitsmodus“ abrutsche. Ein bisschen, als würde ich auf der Neuro einer Schwester den Plan für einen Patienten erklären, den ich selbst nie gemacht und unterstützt habe. Irgendwann kommt dieser Moment immer: Wenn man erkennt, dass es allmählich so viel Angst macht, dass nur noch der Funktioniermodus Sinn hat. Hier bricht mehr zusammen, als dass es heilt und wir reden über Entlassung. Es wird aber auch schon wieder klar, wie das klappen wird: Mit wenig Denken und viel machen. Wie auch schon bei der letzten Entlassung: Einfach nur vorwärts. Egal wie. Nur mit dem Unterschied, dass ich hinterher diesmal sehr alleine dastehe.

Danach mache ich mich erstmal auf die Socken zum sehr geschätzten Herrn Psychiater. Thematisch gesehen ist das Gespräch genau so gelaufen, wie ich mir das gedacht hatte. Wir haben gar nicht viel über die aktuelle Situation geredet und was mich nun genau wieder zurück in die Psychiatrie gebracht hat, sondern haben uns quasi ausschließlich auf die Arbeitssituation fokussiert.
Dabei hat es dann auch endlich mal ein paar Erkenntnisse gegeben. Ich persönlich dachte immer, die Neuro sei eine Art Nischenfach. Sowohl thematisch gesehen, als auch was die Arbeitsbelastung angeht. Dem ist aber nicht so, habe ich gelernt. Nach der Erfahrung meines Gegenübers ist die Neurologie das Fach, in dem mit die meisten Überstunden abgeleistet werden… Na das ist mal interessant. Er selbst schlägt vor, dass es vielleicht auch eine Idee wäre, das Psychiatrie – Jahr vorzuziehen, zu schauen wie es mir damit gesundheitlich geht und ob das eventuell eine Alternative sein könnte. Ich persönlich hätte mit so einem Tipp jetzt nicht gerechnet, viele Psychiater sehen (ehemals) psychisch erkrankte Kollegen in der Psychiatrie ja nicht so gern. Aber vielleicht sollte ich es wirklich einfach mal selbst ausprobieren und meine eigenen Erfahrungen machen.
Er hat auch nochmal darauf hingewiesen, dass er es zwar beachtenswert und wichtig findet sich selbst zu reflektieren und auch immer wieder zu hinterfragen, ob man nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt hat, sich wie ein „Wolf im Schafspelz“ vorzukommen, sei allerdings dann doch eher depressives Gedankengut. Das müsse mir halt auch bewusst sein – ja, ich habe eine menschliche Verantwortung, aber nein: Das heißt nicht, dass ich allwissend bin. Nach abgeschlossener Diagnostik stellen sich manche Entscheidungen, die man in der Akutsituation getroffen hat, als falsch raus. Das ist normal so und nicht zu verhindern in der Medizin. Blöd, wenn es dann für einen Patienten ein schlechtes Outcome gibt, aber ich darf trotzdem weiterhin zu meiner Entscheidung stehen, die ich unter den gegebenen Umständen getroffen habe. Ich muss mich nicht schuldig fühlen. Und dass meine Liegezeiten aktuell so lang sind, ist auch in Ordnung, wenn ich mir unsicher bin und auf oberärztliche Rücksprache warte. Ehe ich etwas Falsches mache, lieber abwarten. Und da hängt es dann eher an der Organisation, was nicht assistenzärztliche Aufgabe ist, uns Oberärzte zur Verfügung zu stellen. Nächste Info: Nicht für alles, was in der Klinik läuft oder nicht läuft, den Schuh anziehen.
Zum Thema Kündigung hieß es, dass aktuell kein Chef ohne triftigen Grund Jemanden entlassen wird, bzw. einen Vertrag nicht verlängern wird.

Also zusammenfassend in der Plan: Um die Autonomie zu erhalten, um die ich ja hart kämpfen musste, bleibe ich erstmal in der Ferne. Versuche es nochmal in der Akutneuro. Wenn das nicht geht, vielleicht Reha. Oder alternativ das Psychiatrie – Jahr vorziehen und schauen, ob ich nicht mit einem ruhigeren Fach besser zurecht komme. Und wenn es in der klinischen Versorgung gar nicht geht, bleibt immer noch das Labor (obwohl wir uns schon einig waren, dass die Patientenversorgung im Arztberuf einem auch viel Positives geben kann), oder Stellen wie der MDK – das hat er auch noch vorgeschlagen.
Also fassen wir zusammen: Mondkind ist noch nicht verloren, solange sie konsequent den Stufenplan befolgt. Ich hoffe, ich vergesse das nicht… 



Danach muss ich schon fast zur Tanztherapie. Heute werden wir wirklich mal dazu angehalten, uns zur Musik zu bewegen. Das ist einfach gar nichts meins. Ich bin nicht unmusikalisch, aber tanzen und ich… - das passt überhaupt nicht zusammen. Außerdem bedeutet ein Einschalten der Musik auch meist ein Lösen von Gedankenknoten, sodass ich eigentlich eher im Schreibsel-, als im Tanzmodus bin. Scheint ungewöhnlich zu sein. Entnehme ich den Blicken der Tanztherapeutin und den Mitpatienten, als ich bei der Reflektion davon berichte.
Aber gut… - wie soll ich – wenn ich mich so gar nicht wohl in mir und meinem Körper fühle – durch die Bewegung zu irgendwelchen positiven Gefühlen kommen; das schließt sich ja schon fast aus. Da kann aber freilich die Tanztherapeutin nichts für. Das ist die ehemalige Anorexie – Geschichte, die mir hier dazwischen grätscht.

Später am Nachmittag habe ich noch einen kurzen Termin bei Herrn Therapeuten. Wir reden kurz über die Mail. Aber so richtig weiter kommen wir nicht.
Ein bisschen schwierig ist auch das Kommentar, dass Geschreibsel nicht mehr „in“ ist. Ich weiß, dass die das hier ohnehin nicht gerne sehen – aber damit fällt natürlich mehr, als ich denen hier zugestehe – ich habe das mal ganz beiläufig abgenickt. Denn wie der ein oder andere Leser sicher weiß: Ich bin sehr schlecht im Reden. Und bis ich mal meine drei wichtigen Sätze formuliert habe, ist die Stunde vorbei. Falls ich sie denn überhaupt formuliere. Wie will er noch irgendetwas auffangen in den nächsten drei Wochen? Und auch in der halben Stunde heute hat sich gezeigt: Es ist für die Menschen nicht fassbar, wie sehr hier gerade selbst in schützenden Mauern alles aus den Fugen gerät und fast werden diese Mauern dann zum Gefängnis.

Ich hatte hier zwischendurch mal eine Woche das Gefühl, dass es doch ganz gut läuft. Aber so langsam wird die Frage Realität, die schon vor dem Klinikaufenthalt immer bestand: Hat das Sinn noch eine Runde zu drehen, oder ist das einfach sinnlos, wenn man nicht in der Lage ist auf eine Mondkind einzugehen, die eben nicht einfach anders kann, als die Rolle zu spielen, die von ihr erwartet wird…? Und natürlich möchten die etwas über Therapieerfolge hören und nicht davon, dass jede Woche eine Katastrophe mehr passiert.
Mit anderthalb Stunden reden in der Woche ohne Geschreibsel – Unterstützung werden der Herr Therapeut und ich auf jeden Fall nicht mehr weiter kommen.

Ich glaube auch nach der Klinik wird dieses Mal Vieles anders sein. Sowohl im Helfersystem, das in vielen Teilen einfach nicht mehr existent sein wird, als auch auf privater Ebene, auf der die beiden wichtigsten Menschen fehlen. Auf meiner Telefonliste herrscht mittlerweile auch gähnende Leere, weil ich auch einfach gerade nicht mehr kann.

„Ich hoffe, Sie schaffen das…“, sagte der sehr geschätzte Herr Psychiater heute am Ende des Gesprächs mit sehr viel Aufrichtigkeit.
„Ich auch“, habe ich entgegnet und mich dabei sehr bemüht nicht zu weinen.

Die Hoffnung ist am Ende alles was bleibt. Das war schon immer so. Auch wenn das Licht beinahe erloschen ist. Aber… - kennen wir alles schon. Und noch setzen wir tapfer einen Fuß vor den anderen. Solange wir die Fackel tragen können. War schon immer so. Und wird bis zum Ende so bleiben.

Mondkind

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