Psychiatrie #47 Oberarztvisite und Gedanken zur Entlassung
„Ich glaube, ich habe sehr
lange versucht, mit dem Tod des Freundes so umzugehen, wie es mir nahe gelegt
wurde. Die Menschen haben gesagt „Mondkind Du bist nicht Schuld“, ohne die
ganze Geschichte zu kennen. Die Menschen haben gesagt „Das ist eine Tragödie,
aber Du musst jetzt Dein Leben weiter leben…“ Der Seelsorger hat mich wirklich
unterstützt und ich habe versucht, alle Ideen von ihm umzusetzen und bin damit
eine Weile gut und sicher gefahren.
Aber so langsam habe ich auch begriffen: Das funktioniert so nicht.
Der Verstand kann viel wollen, wenn das Herz etwas ganz anderes sagt.
So langsam begreife ich, dass der Tod etwas Endgültiges ist. Dass der
Freund nie wieder anrufen wird. Dass wir uns nie wieder sehen werden. Und, dass
da viele Fragezeichen stehen bleiben. Vielleicht werden sich noch ein paar
Fragen im Gespräch mit seiner Mutter lösen, aber viele Fragen werden bleiben.
Und viele Dinge, die jetzt Tatsachen werden. So wünscht man doch jedem
Menschen, dass er am Ende, bevor er stirbt auf sein Leben zurück blicken und
sagen kann, dass es gut war, wie es war. Dass der Mensch zufrieden,
streckenweise hoffentlich glücklich war. Dass er die Gewissheit hatte, auf
irgendeiner Ebene angenommen und geliebt worden zu sein. Und… - selbst wenn ich
mich da raus nehme, die ihm das hätte geben können, ist es doch so, dass er in
diesem Wissen nicht gestorben ist – sonst hätte er sich wohl nicht umgebracht.
Und das… - zerreißt mir das Herz.
Und dann ist es auch so, dass man mit dieser Geschichte anfängt,
unfreiwillig zum Außenseiter zu werden. Entweder die Menschen sagen: „Mondkind,
das Leben muss weiter gehen“, oder sie tun so, als hätten bei dem Teil der
Geschichte kurz die Ohren versagt. Und letztendlich kann ich das den Menschen
nicht mal verübeln – hätte mich Jemand vor drei Monaten mit einem solchen Fall
konfrontiert, hätte ich auch irgendetwas Höfliches gesagt ohne zu wissen, wie
ich diesem Menschen helfen kann. Aber da entsteht eine Wand zwischen der Welt
und mir. Ich in meiner Realität, in meiner eigenen, erschütterten Welt und der
Rest der Welt, der gerade ganz woanders ist.
Am Ende… - lässt einen die Überforderung, die das jetzt gerade alles
mit sich bringt natürlich auf irgendeine Art reagieren. Ich kenne mich so
nicht, aber ich könnte im Moment jeden Menschen, der den Mund aufmacht, an die
Wand klatschen. Auf der einen Seite kann ich nicht alleine sein, auf der
anderen Seite sind mir alle Menschen zu viel, was dazu führt, dass ich wie ein unruhiger
Tiger über die Station renne. Und genau diese Ambivalenzen spüre ich im Moment
für so viele Lebensbereiche.
Man kämpft jeden Tag dagegen und hat jeden Tag ein bisschen weniger Kraft dafür. Ich frage mich, was ich tun soll. Weil
ich weiß, dass es nur weiter geht, wenn ich den Freund ein Stück weit loslasse.
Und in dem Moment in dem ich das versuche wird mir klar: Ich möchte ihn doch
noch gar nicht loslassen. Ich möchte, dass er ein Teil von mir, von meinem
Leben bleibt, auch wenn ich mir damit nur weh tue.
Im Endeffekt… - bin ich einfach überfordert. Ich weiß nicht wohin mit
mir und meinem Hirn, wie ich das aushalten und lösen soll und ich sage es ja
selten so direkt, insbesondere, wenn ich mein Gegenüber nicht gut einschätzen kann, aber ich kann einfach nicht mehr.
Bislang wurde dieses Thema vom Umfeld – ob nun in der Klinik
oder Privat – auch immer sehr stiefmütterlich behandelt. So nach dem Motto: Es
gab schon vorher viele Schwierigkeiten und jetzt ist ihr das eben am Rand auch
noch passiert. Aber man muss sich eben bewusst machen: Menschen sollten nicht in dem Alter sterben.
Und wenn schon, dann zumindest nicht so. Und mir wird so langsam klar: Ob ich
das möchte oder nicht, aber das ist eine eigene Kiste. Ein eigenes Thema. Das es
verdient, gehört zu werden. Ich habe den besten Freund verloren, den ich hatte.
Die einzige Person (nicht im professionellen Rahmen oder als potentielle
Bezugsperson), die real da war und auf die ich mich immer verlassen konnte. Und
ehrlicherweise kann ich mir ein Leben ohne den Freund noch nicht vorstellen.
Und ich weiß auch nicht, ob ich das möchte…“
Oberarztvisite. Mit dem vertretenden Stationsarzt und dem vertretenden
Oberarzt. Es ist alles dezent chaotisch und unvorhersehbar diese Woche.
Langer Monolog. Mit wenig
Zeit im Vorfeld, die wichtigsten Eckgeschehenisse soweit auf dem Kasten zu
haben, dass mich auch eine ganze Riege von Personal nicht aus der Fassung
bringen kann.
Woher die Worte da so manches Mal kommen, die Zusammenfassung die es
am Ende wird, weiß ich selbst nicht so richtig.
Ich brauche eine Weile, um diesen Text zu entwickeln. Manchmal
herrscht einfach zwanzig Sekunden Stille, bis ich einen Satz zu Ende gesprochen
habe. Immer mal wieder steigen kurz die Tränen in meine Augen und ich muss mich
bemühen, weiter zu sprechen. Ich spüre, wie es langsam nass auf meinem Rücken
wird, wie die Füße und die Hände und auch die Stimme irgendwann zittert. Totenstille
in diesem Raum. Jeder hört zu. Niemand unterbricht.
Sich mit einem Thema, das hier wochenlang Keiner richtig beachtet hat
so verletzlich darzustellen, kostet allen Mut und alle Kraft, die gerade zu
finden ist. Denn letzten Endes weiß ich nicht mal, ob sie das so hören wollen.
Oder einfach, warum dieses Thema so wenig beachtet wurde. Ob das am Ende von
mir ausging? Ob sie gewartet haben, bis ich von alleine anfange darüber zu reden und gehofft haben, dass das vor der Entlassung der Fall ist?
Oder, ob man da hier auch empfindlich ist, weil sicher jeder seine
eigenen Geschichten mit sich trägt…?
Aber es lohnt sich. Der Stationsarzt hat sich in der Zwischenzeit
gebildet. Fasst am Ende nochmal für den Oberarzt zusammen, was mit dem Freund
passiert ist.
Er ist Psychiatrie – Oberarzt. Also jongliert er natürlich als Erstes
mit den Medikamenten. Sagt aber auch, dass dieses ganze Thema noch mal in
Einzelstunden mit dem Psychologen besprochen werden muss. (Was die immer alles
gemütlich auf die Einzelstunden schieben… - gefühlt ziehen wir jede Woche eine
andere Kuh vom Eis und die Hausaufgaben, die er mir mal gegeben hat vor drei
Wochen, haben wir bis heute nicht besprochen… ).
Aber ich werde gesehen. Und gehört. Und alleine das trägt. Und schafft
Dankbarkeit.
Er spricht aber auch an, dass er unter den Umständen eine Entlassung
nächste Woche kritisch sieht. Er bespreche das im Team, ich dürfe auch nochmal
darüber nachdenken und morgen soll ich das nochmal mit dem Stationsarzt besprechen.
Einerseits bin ich unglaublich dankbar, dass man mich doch endlich sieht, ernst
nimmt und wahrnimmt und mir eventuell auch die Möglichkeit gibt länger zu bleiben, wenn
ich die Zeit brauche. Dass mich das mit dem Freund nochmal so einholt… - damit
hat vermutlich einschließlich mir selbst niemand gerechnet. Andererseits habe
ich den Kollegen auf der Arbeit gesagt, wann ich wieder da bin, die rechnen mit
mir, haben mich in die Dienste eingeplant und ich werde auf der
Beliebtheitsskala mit einer weiteren Krankschreibung sicher nicht nach oben
klettern. (Natürlich kann man sich fragen, inwieweit sich die Kollegen das
Recht heraus nehmen können darüber zu urteilen, wann man nach einem Suizid des
besten Freundes wieder startklar sein muss, aber so reflektiert wird sich da
Keiner hinterfragen…)
Was mache ich jetzt… ? Unter normalen Umständen hätte ich als erstes
den Freund angerufen. Und / Oder hätte die potentielle Bezugsperson gefragt.
Beide fallen raus, seit einigen Wochen. Also bleibt mal noch Herr Therapeut.
Ich bekomme spitz, dass eine Mitpatientin, die noch Redebedarf hat, gerade auf
ihn wartet. Mit ihrer Erlaubnis pflanze ich mich auf der Dachterrasse in ihre
Nähe, um ihn wenn er kommt – natürlich absolut zufällig… - abzufangen. Die
Antwort ist ernüchternd. Keine Zeit. Auch nicht für wichtige Fragen. Vielleicht
morgen. Aber die Entscheidung muss ich eben heute treffen. Irgendwann. Und der Einzeltermin wurde heute früh von Mittwoch auf Freitag verschoben was gerade jetzt - wo ich ja eigentlich sowieso seit Mitte letzter Woche Redebedarf habe - äußerst ungünstig ist.
Ich weiß es nicht… - Herr Therapeut und ich. Ich kann nicht sagen,
dass er unhöflich wäre oder sich keine Mühe geben würde, aber ich habe einfach
das Gefühl, er war näher dran an mir, als zwischen uns 400 Kilometer Distanz
lagen. Es interessiert ihn glaube ich auch einfach nicht mehr so.
Es ist eben viel passiert, das uns unsere Grundlage weggenommen hat,
seitdem die Oberärztin das Geschreibsel verboten hat. Ich kann das schon
verstehen, dass auch er einfach nicht mehr so nah an meiner Lebenswelt dran
ist, wie er es mal war und jetzt auch gar nicht weiß, wo ich gedanklich bin. Therapeutisch
gesehen war er einfach das Standbein schlechthin, das da gerade auch so langsam
ein Fragezeichen bekommt. Am Freitag haben wir uns beinahe zwei Wochen nicht
gesprochen und seitdem hat sich so viel verändert, das er noch gar nicht weiß.
Wie dringend benötigt jetzt einfach mal zehn Minuten seiner wertvollen Zeit
sind und dass es hier gerade wirklich um viel geht, ahnt er wahrscheinlich
nicht mal.
So ist das mit dem professionellen Helfersystem. Sehr unvorhersehbar.
Und wenn da ein Bemühen um die eigene Person entsteht, ist das sehr, sehr viel
Glück und ich schätze weiterhin sehr, dass er sich da so viel Mühe gegeben hat.
Ob die Distanz nun meine Einbildung ist, ob er vielleicht auch ein
bisschen frustriert davon ist, dass ich nicht schnell genug vorwärts komme… -
wer weiß das schon. Das wird er mir auch nicht sagen. Und entweder dieses
Gefühl wird sich früher oder später wieder normalisieren, oder es bleibt.
Vielleicht wird das auch so ein Mensch. Von dem ich sagen kann: Ich
war und bin sehr dankbar, dass er da war. Dass ich mich tatsächlich auch eine
Weile auf ihn stützen konnte. Aber jetzt kann er es nicht mehr sein.
Ich will den Teufel nicht an die Wand malen… - aber vielleicht ist das
der dritte Mensch, der sich innerhalb von ein paar Wochen still und leise auf
den Weg macht. Das wird er mir am Ende des Aufenthaltes vielleicht noch sagen.
Vielleicht auch nicht. Vielleicht werde ich das auch einfach irgendwann spüren.
Mondkind
P.S.
Ich schreibe natürlich – jetzt gleich im Anschluss – auch nochmal eine
Pro- und Contra – Liste. Aber wer mag, darf auch eine Meinung zum Thema
dalassen.
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