Psychiatrie #45 Von grünen Ohren und Trauer


Sonntagmorgen.
Mondkind steht eingewickelt in ein Handtuch mit Kamm und Fön vor dem Badezimmerspiegel.
Kämmt die Strähnen des Ponys ihrer Haare und föhnt sie nach und nach trocken.
Schaut sich ins Gesicht. In die Augen. Die im Moment permanent einen leichten Rotstich tragen. Den man – wenn man Mondkind nicht genau kennt – vielleicht nicht mal wahrnimmt.
Diese Augen, die die Welt in den letzten zwei Monaten in neuen Farben kennen gelernt haben. Die vielleicht auch ein bisschen für Zwei gesehen haben. Diese Augen, die nicht mehr „es wird schon“ ausdrücken. Sondern einfach nur tiefe Trauer.

Um was trauert Mondkind da eigentlich?
Wahrscheinlich um den Freund. Der viel zu früh, viel zu brutal und viel zu verzweifelt aus dem Leben gerissen wurde. Ohne, dass Mondkind etwas retten konnte.
Um das, was der Freund spiegelt. Um die Familie. Um den fehlenden Halt. Um die Sicherheiten, Verlässlichkeiten, nach denen sie sich schon so lange sehnt.
Um den Job. Von dem sie so sehr überzeugt sein wollte, dass es der Richtige für sie ist und dass sie das schaffen kann, wenn sie sich nur genug anstrengt. Den sie so sehr vermisst, aber vor dem sie auch so sehr Angst hat. Irgendeine Hassliebe. Irgendwie fehlt ihr das und gleichzeitig möchte sie nie wieder zurück.
Um die potentielle Bezugsperson. Die so lange Verständnis signalisiert hat, manchmal ein bisschen ambivalent. Und der nun der Kragen etwas geplatzt ist. Die Person, die nun relativ unmissverständlich zum Ausdruck gebracht hat, was sie über Mondkind denkt.
Ein bisschen um sich selbst. Um diese Blase, in der sie so gern leben wollte. Eigenständiges Leben, unabhängig, Ärztin. Endlich geschafft, nach so vielen Jahren. Und nun ist sie unsanft auf dem Boden der Tatsachen gelandet, nachdem sie jahrelang in einer Liga gespielt hat, die vielleicht doch zu hoch, zu schnell war. Was nicht heißt, dass sie es nie hätte schaffen können. Aber vielleicht langsamer. Mit mehr Zeit, die eigenen Kompetenzen und begreifen und zu erproben.

Am Anfang wurde von vielen Menschen Zeit und Geduld signalisiert. Mittlerweile ist die Geduld bald am Ende. Der Arbeitgeber nervt im Hintergrund, die Klinik hat das Datum, bis zu dem Mondkind wieder funktionieren muss, schon vor Wochen festgesetzt. Die Eltern agieren im Hintergrund mit allerhand vermeintlich hilfreichen Ratschlägen, die Mondkind wieder hinaus in die Welt treiben sollen.
Was Mondkind am Anfang nicht begriffen hat, fast ein bisschen überzogen vom Umfeld fand, holt sie genau jetzt ein. Während das Umfeld den Trauerprozess für beendet erklärt, fängt der für Mondkind auf so vielen Ebenen erst an.

Mondkind steht vor dem Spiegel. Schaut in die roten Augen, aus denen die Tränen fließen. Schaltet den Fön aus. Setzt sich eingewickelt in ihrem Handtuch auf den Boden.
Mit den Depressionen hat Mondkind sich häufiger mal wie ein Alien gefühlt. Wie so ein kleines Männchen mit grünen Ohren und Antenne auf dem Kopf. Und wie erleichtert sie war, als sie beim ersten Klinikaufenthalt Menschen kennen gelernt hat, die in ihrer Endstrecke genauso ticken wie sie. Mit denen sie sich verstehen konnte, ohne dass dafür Worte nötig waren.
Und jetzt sieht sie es wieder vor sich. Dieses Männchen. Mit den grünen Ohren und Antenne auf dem Kopf. Das sich ängstlich in der Welt umschaut. Und so häufig weiß sie selbst nicht, was sie morgen erwartet. Wird eher die Trauer im Vordergrund stehen, die Schuld, die Ohnmacht, dass man diesen Menschen nicht retten konnte... ? Oder wird es vielleicht mal ein Tag, der irgendwie okay ist... ? Sie weiß doch selbst nicht, was mit ihr passiert.

Sie erinnert sich an den gestrigen Abend. Nach vier Stunden in der Öffentlichkeit war sie absolut erschöpft. Zwischen Menschen, mit denen sie sich oft gut verstanden hat und ihr, ist eine Wand entstanden. Denn natürlich entging es niemandem, dass Mondkind nicht „normal“ war. So sehr sie sich auch darum bemüht hat.
Die Oberflächlichkeiten des Alltags, die aktuellen Sommerhits, die gespielt wurden, die Geschichten über die Eheprobleme eines Teilnehmers, haben einfach nur genervt. Obwohl die Themen für die anderen gerade der Mittelpunkt der Welt waren, steht Mondkind in ihrer eigenen, erschütterten Welt. Die wiederrum die anderen nicht verstehen. Am Rande hat Mondkind sie mal erwähnt. Die Tragödie. Warum sie kurzfristig wieder in der Studienstadt ist. Und dann fehlen die Worte. „Das tut mir leid Mondkind…“ „Ja Mondkind, da kannst Du auch nichts für, es muss jetzt weiter gehen, Du musst Dich auf die guten Seiten des Lebens konzentrieren…“ „Stress Dich nicht Mondkind, Du hättest nichts ändern können…“ (Doch verdammte Hacke, hätte ich…).
Am schlimmsten ist eigentlich, was man instinktiv am ehesten tut. So tun, als hätten bei dem Teil der Geschichte mal kurz die Ohren versagt.
Sie hätte ihnen allen den Hals umdrehen können. Aber… - kann es andererseits verstehen. Wenn sie vor drei Monaten Jemand mit dem Thema konfrontiert hätte, wäre sie auch überfordert gewesen. Ihr wäre wahrscheinlich auch nicht mehr als ein „Es tut mir leid; meld Dich, wenn ich etwas für Dich tun kann“, eingefallen wohl wissend, dass sie ohnehin keine Zeit hat.
Was ich mir wünschen würde wäre, dass mich einfach mal Jemand in den Arm nimmt. Die Tränen einfach mal auffängt. Mir die Zeit eingesteht, die es braucht. Dass vielleicht mal Jemand sagt: „Hey, wir sind auch ein bisschen überfordert mit dem Thema, können es vielleicht nicht genau nachvollziehen, aber wir sehen Dich.“ Was ich mir wünschen würde, wäre die Frage: „Kann ich etwas für Dich tun, Mondkind…?“ Und dann… - obwohl ich kein gläubiger Mensch bin, würde ich sagen: „Gehst Du mit mir mal eine Herze anzünden…? Kann auch hier auf dem Gelände sein; wir brauchen ja keine Kirche dazu…“

Und dann… - dann entsteht da noch ein gewisser sozialer Druck. Denn irgendwie muss man sich ja zumindest an die Menschen halten, die jetzt noch da sind. Was kaum noch welche sind. Aber ich habe aktuell nichts zu erzählen. Das passend wäre. Eigentlich möchte ich gar keinen sehen. Mit keinem reden. Igelmodus. Der wievielte auch immer.

Da sieht es doch gleich viel wohnlicher aus in der Psychiatrie 😀

 ***
Im Hintergrund höre ich den Chef agieren. Über Kollegen, die mir das ständig mitteilen. Einerseits bin ich wirklich dankbar einigermaßen zu wissen, auf was ich mich da einstellen muss, wenn ich wieder zurückkomme. Und, dass ich das hier noch einmal durchsprechen kann – auch wenn die Behandler ungern darüber reden. Andererseits stresst es mich natürlich enorm.
Aktuell überlegt man wohl, mich zurück auf eine Station zu holen, auf der ich schon war – wohl eher nicht aus Nächstenliebe, sondern weil da zwei Leute gekündigt haben und dort jetzt eben Personalknappheit herrscht. Ich habe die Station auch schon mit einem anderen Kollegen zu Zweit geschmissen, die eigentlich für mindestens vier Assistenten ausgerichtet ist. Man weiß also: Es funktioniert. Was ich früher als Geschenk empfunden hätte, finde ich jetzt gar nicht mehr so lustig. Nachdem es hier zwischenmenschlich ordentlich geknallt hat, brauche ich einfach gerade ein bisschen Abstand zu einigen Menschen. Und wäre wirklich nicht froh, jeden Tag wieder mit der Sehnsucht was es werden sollte und der Realität, was es geworden ist, konfrontiert zu werden.

Außerdem habe ich gehört, dass der Arbeitgeber meine Krankheit jetzt auch mal langsam genug finanziert hat nach sechs Wochen. Ach nee… - das ist mir schon auch bewusst und ich telefoniere ungefähr täglich mit der Krankenkasse wegen des Krankengeldantrages.

Und jetzt… - bringen wir mal den Sonntag rum. Gehen nachher eine langsame Runde durch den Wald. Sortieren uns mal. Machen noch ein bisschen Therapiehausaufgaben. Warten, bis morgen die Woche startet. Und hoffen. Dass man irgendwo einen geduldigen Zuhörer findet. Was ja hier in der Klinik auch schwieriger geworden ist. Ich glaube, die wissen nicht mal, wie groß das Thema „Freund“ gerade ist.
Mehr als Zuhören kann man vielleicht auch nicht. Ob da aktuell therapeutisch viel Sinnvolles  rauszuholen ist? Vielleicht explodiert der Blog deshalb auch so. Der kein Ersatz für ein menschliches Gegenüber ist. Aber nach den letzten zwei Monaten alles ist, das bleibt.

Mondkind

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