Psychiatrie #49 Über ein lang ersehntes Einzelgespräch


Einzelstunde.
Nach fast zwei Wochen.
Sollte viel reißen.
Eigentlich.
Hat es mal wieder nicht. Nach dem Geschreibsel – Verbot. Nachdem Herr Therapeut keine Ahnung mehr hat, wo ich eigentlich bin.
Nachdem ich bestimmt die Hälfte der Stunde brauche, um alles neu zu entwickeln. Die Vorbereitung von Einzelstunden wird langsam auch zur mühsamen Kleinstarbeit. Wie früher, vor Geschichtsprüfungen. Der ganze Text, jedes Wort wird vorher aufgeschrieben, wie damals alle Jahreszahlen. Weil es nicht nur um die Fakten geht, sondern auch um die Stimmung zwischen den Zeilen. War früher fast noch wichtiger beim Geschreibsel. Und dann wird auswendig gelernt. Und weil das mit einem ziemlich panischen Hirn nicht so gut geht, fällt auch das Entwickeln der Ereignisse der vergangenen zwei Wochen schwer. Aber irgendwann, nachdem ich minutenlang für den Einstieg brauche, bin ich einigermaßen drin. Vergesse nur weniges. Hoffe ich.

Am Ende ist es dennoch ein bisschen ernüchternd. Herr Therapeut appelliert – natürlich – an die Eigenverantwortung. Lässt ein „Ich weiß nicht, was ich mir selbst noch glauben kann, wenn das Umfeld mich teilweise als hochmanipulatives, egoistisches Wesen abstempelt“, nicht gelten. Im Moment fühlt sich die Trauer, die Sehnsucht diesen Menschen wenigstens noch ein einziges Mal sehen zu können so echt an, aber ist sie das? Und was ist sie Konsequenz daraus?
Ich führe aus, dass es schwer ist mit der Eigenverantwortung, wenn ich so unsicher bin. Und alle Menschen, die schon früher nicht für mich entscheiden, aber zumindest mittragen konnten, nicht mehr da sind. Wer das sei, will er wissen. Naja… - der verstorbene Freund, die Freundin, die ich bis März hatte, der Herr Oberarzt, dessen Einstellung sich so sehr gedreht hat. Und… - aber das sage ich nicht: Herr Therapeut in Person. In dem Moment, in dem ich ihn in Gedanken zu meiner Liste hinzufüge, gibt es diesen Stich im Herzen, den ich schon so gut kenne. Wie schön zu wissen, dass er im Hintergrund viel präsenter war, als er das gesagt hat. Obwohl ich es tatsächlich häufig ein bisschen gespürt habe. Crazy, aber wahr. Das ist jetzt weg. Man merkt auch, dass er keine Ahnung hat, wo ich jetzt bin und was mir jetzt gut tun würde. Und wie es weh tut zu wissen, dass er die nächste Person ist, die ich verlieren werde – auch wenn ich ihn schon jetzt sicher zu Teilen verloren habe. („Haben Sie ihn nicht schon längst verloren…?“ Der Satz, den er damals über die potentielle Bezugsperson sagte, passt nun so gut auf ihn selbst). Selbst wenn ich länger hier bliebe, wäre er erstmal im Urlaub. Ab dem Ende der nächsten Woche trennen sich unsere Wege und werden mutmaßlich nicht mehr zusammen finden. Und da kann man noch so sehr wissen, dass es professionelles Helfersystem ist und dass es zu erwarten war – dieser Mensch hat mir zwischenzeitlich das Leben gerettet. Zuletzt damit, dass er mich nach dem Tod des Freundes durch die Tage gezogen und mich – sobald ich hier war - in die Notaufnahme gebracht hat. Es tut weh. Und das wird es noch lange tun. Und hätte ich das nicht gewollt, hätte ich mich nicht auf ihn einlassen dürfen. Und nicht mal diese Trauer hat Berechtigung. Da ein Therapeut eine von der Krankenkasse auf Zeit finanzierte Bezugsperson ist, hat das klar zu sein, wie das endet und dass man da emotional nicht so daran hängen darf, dass man doch wieder ein Stück zerbricht, wenn sich die Wege trennen.

Ob das denn jetzt wohl so verwunderlich ist, dass ich mich auf den einzigen Menschen stütze, der jetzt noch geblieben ist, frage ich laut. Auch, wenn sein Urteil mir gegenüber ziemlich vernichtend ist. Und ich das eigentlich auch nicht tun sollte, weil auch er nicht für mich da sein kann.

Herr Therapeut fragt die schwerste Frage. Ob er mir je hätte helfen können.
Und Mondkind sucht eine diplomatische Antwort. Hätte er, ja. Definitiv. Am Ende hat aber auch er dezent das Vertrauen missbraucht und damit ist die Hilfe seit mittlerweile über drei Wochen auch ein wenig versiegt. „Es geht da ja immer ein bisschen um Kurz- und um Langfristigkeit…“, sagt sie. Das muss sie erklären. Grundsätzlich ist sie jetzt fast zwei Monate sicher gewesen. Und das ist nach all dem Chaos vorher so viel wert gewesen, dass sie tatsächlich wahrscheinlich zu großen Teilen erstmal Ruhe gebraucht hat. Es ist etwas sehr Besonderes – diese Zeit. In der sie morgens mal ohne Angst aufwachen darf. In der sie sein darf, wie sie eben ist. In der sie – in guten Momenten – ein ganz kleines bisschen Leben spürt. Das man dann versucht zu retten. Vom heute ins Morgen. Um langfristig zumindest die Erinnerung zu haben. Die Blog- und Tagebucheinträge werden schon ein bisschen heilig sein in den nächsten Monaten und vielleicht auch Jahren. Die zwischen den Zeilen so viel Wertvolles tragen.
Vermutlich ist Herr Therapeut damit nicht zufrieden. Aber es ist ehrlich.
Wir schauen uns an. Und ich weiß nicht, wessen Augen trauriger aussehen. Ich muss das tragen, Herr Therapeut. Nicht Sie...

Was bleibt, ist die Erinnerung. An die guten Zeiten. Hauptsächlich beim letzten Aufenthalt. Wo ich dieses Bemühen, das ich aufgesogen habe wie ein Schwamm, so oft gespürt habe. Manchmal war es nur ein Zettel. "Ich werde Dir helfen, wenn Du mich brauchst“, hat das Eis für immer gebrochen. Tee trinken abends im Arztzimmer und dadurch die Krise auffangen. Damit auch die Einführung der Tee – Momente, die bis heute geblieben sind. Abends ein ungefragtes (!) Vorbeihüpfen im Zimmer, wenn er wusste, dass ich einen schwierigen Tag hatte.
Sein Einsatz für die Patienten war im Übrigen eines meiner wesentlichen Vorbilder, als ich im Job angefangen habe. Ich wollte meinen Patienten ein bisschen was von dem zurückgeben, das ich selbst erleben durfte. Von diesem imaginativen riesengroßen Geschenk mit Schleife drauf. Und dieses Bestreben wird auch bis zum Ende – wann immer das ist – bleiben. (Tatsächlich hat mir eine Kollegin gestern erzählt, dass ein Patient der öfter bei uns ist nach mir gefragt habe und von mir habe behandelt werden wollen - ein bisschen scheint das also geklappt zu haben).
Vielleicht habe ich auch ein winziges Bisschen gehofft, dass sich diese Momente noch ein Mal wiederholen werden. Dass man sie nochmal ein bisschen auffrischen kann. Bis sie auf ewig in der Erinnerungskiste verschwinden und die Erinnerung reichen muss, um über reale Krisen hinweg zu helfen. 

Einer der Zettel meines Lebens...

Am Ende erzählt Herr Therapeut eine Geschichte, die sich fast ein bisschen autobiographisch anhört.
„Manchmal kann das sein, dass man sich den Großteil seines Lebens von allen Seiten anhören musste, wie schwach, wie untalentiert oder dumm man ist. Von allen Seiten. Und ja, das ist schwierig. Auch schwierig, lange auszuhalten. Und dennoch kommt vielleicht irgendwann der Moment, in dem man an die Position kommt, die man vielleicht schon immer haben wollte. Die einem dann selbst nochmal jeden Tag das Gegenteil beweist, auch wenn man es nicht glauben kann, weil die alten Überzeugungen im Hinterkopf immer noch aktiv ist. Es gibt sicherlich für jede Person die richtig Position…“
Das hört sich an, wie von einer Person gesprochen, die im Leben angekommen ist. „Es fragt sich nur, ob man die rechtzeitig findet…“, entgegne ich und in dem Moment schwebt etwas ganz Eigenartiges durch den Raum, das trotz des Schmerzes, den diese Stunde auslöst, fast ein bisschen trägt.

Über all die Eigenverantwortung, die man mir zurück gibt vergisst man jedenfalls, dass es doch noch einen Unterschied macht, einem die komplette Verantwortung abzunehmen, oder beratend zur Seite zu stehen. Habe ich erwähnt, dass ich mit Herrn Therapeuten gern meine Pro- und Contra – Liste durchgehen würde…? Ich weiß es nicht mehr. Auf jeden Fall haben wir es nicht gemacht.

Als ich vom Termin wieder komme, verziehe ich mich erstmal in unser Bad. (Da kann man gut Tränen verbergen). Schaue mich im Spiegel an. Sehe ein Stück weit auch die traurigen Augen der „kleinen Mondkind“, die mich anschauen.
Ich würde, als erwachsene Mondkind, ihr gern die Hand reichen, damit sie sie nehmen kann. Und dann würde ich ihr gern sagen: „Ich passe auf Dich auf, versprochen…“ Aber wir wissen beide… - dass auch die erwachsene Mondkind das nicht kann. Weil sie genauso ums Überleben kämpft, wie die Kinder. Nach diesem Aufenthalt noch mehr, als vorher. Ohne Freund und ohne professionelles Helfersystem im Hintergrund. Und ob aus einem „Das wird schon irgendwie funktionieren“ nicht doch mal „auch die Schultern einer Mondkind tragen nur begrenzt viel Last“ wird…?
Da ist unendlich viel Angst, in die Katastrophe sehenden Auges hinein zu rennen. Und weder kommunizieren, noch verhindern zu können, dass es so wird.

Später haben wir Gruppenvisite. Vermutlich hätte ich mich selbst nicht getraut zu fragen, aber der Arzt bietet von sich aus für den späteren Nachmittag noch ein Einzelgespräch an. Den Vorschlag nehme ich dankend an.
Mal schauen, was dabei raus kommt. Und ob wir endlich mal festlegen, wann ich hier gehen sollte.
Ich halte Euch auf dem Laufenden. Eventuell gibt es dann heute noch einen zweiten Blogpost...

Mondkind

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