Psychiatrie #43 Vom "irgendwie", Brücken bauen und Grenzen schieben


„Irgendwie wird das schon funktionieren…“
Ich weiß nicht, wie oft ich diesen Satz gestern im Bezugspflegegespräch gesagt habe. Nachdem ich etwas eingenordet wurde. Nachdem nochmal betont wurde, dass es noch zwei Wochen sind. (Und ich im Hintergrund weiß, dass wir auf der Arbeit noch fünf unbesetzte Dienste für September haben).

So langsam stellt sich die Frage: Wer schützt hier wen? Und wessen Aufgabe ist das eigentlich… ?
Nachdem die Frage mit den Ressourcen auf der Arbeit ziemlich unbeantwortet blieb. Seitdem ich weg bin, sind vier Kollegen gegangen. Viel Personalnotstand, ich auf einer Station, die eigentlich für Fortgeschrittene ist, kurz vor den ersten Diensten. Die potentielle Bezugsperson und Ansprechpartner auf der Arbeit, wird das nicht mehr mitmachen, der Kollege, mit dem ich die Epilepsie – Station aufziehen wollte, ist auch nicht mehr da.
Ob ich das wirklich gut schaffen kann, weiß keiner.

Manchmal katapultiere ich mich gedanklich zurück. An jenen Tag, an dem ich unterwegs zur Hausärztin war, um mir die erste Krankmeldung meines Lebens abzuholen. Neben all der Trauer, all dem Chaos, war da auch unterschwellig etwas, das ich gar nicht wahrhaben wollte: Erleichterung.
Wenn auch auf ziemlich unschöne Weise, aber die Mauern, die mich vor wenigen Tagen noch zu erschlagen drohten und das sehr sicher auch getan hätten, waren plötzlich gesprengt. Ich konnte auf der einen Ebene so wenig atmen, weil dieser Verlust dieses Menschen in meinem Leben und noch dazu die Verzweiflung, die er gehabt haben muss und die ich nicht mit ihm mittragen konnte, weil er mir nicht erlaubt hat da zu sein, mich fast um den Verstand gebracht hat. Und auf der anderen Seite war da plötzlich die Welt. Ein Stück offener. Ein Stück Rettung. Damals wusste ich noch nicht, wie lange es dauern würde, aber ich wusste, ich musste weder heute noch morgen zurück in dieses Krankenhaus, das ein permanenter Kampf mit der Angst war.

Damals wusste ich noch nicht, dass ich nicht nur ohne den Freund, sondern auch ohne die seelische und moralische Unterstützung der potentiellen Bezugsperson zurück in den Job muss. Ohne die beiden engsten Menschen, die ich um mich herum hatte.
Und ja… - ich habe schon viel geschafft. Oft die Grenzen noch ein Stück weit weg von mir geschoben. Nochmal einen Kopfsprung in unbekannte Gewässer gemacht, während ich einfach irgendwie gehofft habe, dass das gut geht. Mondkind ging stets jenseits der Grenzen. Sonst lief etwas schief. Und es schien so, als sei das Leben daran interessiert, die auch immer ein bisschen weiter zu verrücken. Kaum schien es okay zu sein, kaum näherte sich Mondkind der Grenze, um zumindest eine Grenzgängerin zu sein, rückte sie weiter ein paar Zentimeter zur Seite.
Aber aktuell trennen mich und die Grenze noch ein paar Meter. Und ich kann mir nicht helfen, aber ich habe wirklich das Gefühl, dass diesmal ein „Irgendwie wird das schon funktionieren“, einfach zu wenig ist. Zurück in den alten Wahnsinn. Der kurz davor war, mich umzubringen. Und jetzt soll ich glaubhaft versichern, dass er das nicht tun wird und darüber bitte nicht mehr sprechen.

Angst vor dieser Jobsituation. Davor, in der Ferne komplett alleine zu sein. Vor einem Leben ohne den besten Freund. Und vor dieser Schuldfrage. So lange habe ich geglaubt, dass es besser werden würde, wenn ich den Menschen vertraue, die mir sagen, dass ich mich nicht verantwortlich fühlen muss. Aber Herz und Verstand sind zwei paar verschiedene Schuhe. So allmählich fange ich mal an, mich durch die alten whatsApp – Konversationen zu lesen. Es gab echt fast jeden Tag irgendeine Kleinigkeit, die wir ausgetauscht haben. Manchmal von mehr Bedeutung, manchmal völlig belanglos. Wie, dass die Bahn zu spät war und das ärgerlich war und ich habe natürlich fleißig beigepflichtet und angeregt, sich doch wenigstens Lesestoff oder Musik mitzunehmen.
Der Freund war Brückenbauer. Zwischen den Grenzen und mir. Kannte teilweise nicht mal genau die Grenze. Aber hat einfach seine Hand genommen und mir über den Graben dazwischen geholfen. Mit kleinen Sätzen wie „Ich denk an Dich…“ Oder „berichte heute Abend auf jeden Fall, wie Du es geschafft hast…“ Und ich… - war Brückenbauer für ihn. Auch, wenn ich die letzten Brücke nicht mehr bauen konnte und durfte. Wie oft haben wir darüber diskutiert, wie er um seinen Urlaub kämpfen kann, der ihm zu steht. Seine Umzugspläne diskutiert. Wie oft hatte er Panik wegen irgendetwas und meine Aufgabe war es, ruhender Pol zu sein, der von außen drauf schaut und die Sorgen ernst nimmt, aber es nicht dramatisiert. Ihn zurück in die Realität holt. Der sagt: „Hey ich verstehe Dich und ich würde mir auch Sorgen machen, aber wir können nichts anderes tun als abwarten und verlass Dich drauf, dass ich bei Dir bin, wenn es wirklich so schlimm kommt…“

Im Endeffekt weiß ich einfach nicht, was man hier in der Klinik gerade von mir hält. Ob das überhaupt alles gerade so groß sein darf – zwei Wochen vor der Entlassung. Irgendwie spüre ich tatsächlich viel – man muss fast sagen - Ablehnung. Aber ich kenne mich auch. Mein Hirn. Das in solchen Zeiten gern mal alles verdreht und ungefähr jede Aussage so umdreht, dass ich das so interpretiere, jedem auf den Zeiger zu gehen. Denn immerhin erklärte mir die Pflege auch mal irgendwann, dass ihr Job sehr viel einfacher sei, wenn jeder Patient so sei, wie ich.
Also… - auf was kann ich mich hier gerade verlassen? Was kann ich glauben?

Es ist schon eine Weile her, dass ich mal im nahe gelegenen Wildpark war...


***
Heute musste ich nochmal mit dem Arzt reden. „Irgendwie denkt man jeden Morgen wenn man aufsteht „das geht schon irgendwie, heute wird es besser…“ Nur stellt man irgendwann fest, dass es eben doch nicht geht. Und dann fällt es so schwer, auf die Therapieinhalte zurück zu greifen“, leite ich ein. Erkläre dann, dass mich der Freund sehr beschäftigt. (Da muss der Arzt erstmal aufgeregt im PC scrollen, bis er das gefunden hat, aber es sei ihm vergönnt…). „Es hat mal Jemand gesagt: „Ihr altes Leben kriegen Sie nicht zurück…“ Das war eigentlich auf einer ganz anderen Ebene gemeint. Und ich habe immer gesagt: Doch das geht schon. Aber ich bekomme es wirklich nicht zurück. Einer der wichtigsten Menschen fehlt. Und das begreife ich so zwischendurch immer mal wieder…“, ende ich irgendwann.
„Wir helfen Ihnen dadurch, aber Sie brauchen einfach noch ein bisschen Zeit…“, erklärt der Arzt. Was ein sehr liebes Kommentar ist. Er lässt mich einfach mal Patientin sein. Nimmt mir die Verantwortlichkeiten für die Mitmenschen ab. Trägt ein bisschen. Fragt nochmal nach Suizidgedanken und lässt Ehrlichkeit gelten. Dass es schlimmer als „normal“ ist, aber ich das noch im Griff habe. Er regt an, sich Hilfe und Bedarfsmedikamente von der Pflege zu holen. Und ist der Erste hier, der es mal nicht überhört, dass es ungünstig und sicher nicht ganz angemessen ist, aber dass ich einfach nicht mehr dazu in der Lage bin, wenn es mir sehr schlecht geht und ich konsekutiv so still werde. Er sagt, er spricht mit der Pflege. Damit die mich immer mal ansprechen am Tag.
Er legt die Grundlage, dass diese Krise hier irgendwann mal ein Ende finden kann. Und obwohl ich diesen Arzt eigentlich so fast überhaupt nicht kenne, bin ich ihm gerade unendlich dankbar.

Eigentlich war ja am Wochenende eine kleine Party mit ein paar Bekannten geplant. Übernachten darf ich in dem Zustand auf jeden Fall nicht. Allein ihn davon zu überzeugen, dass ich zumindest bis 20 Uhr wegbleiben darf, ist ein Kunstwerk. Denn ein paar Stunden… - würde ich schon gern hingehen. Zwar wird mich das auch alles sehr anstrengen und die wissen alle nicht mal was Sache ist und warum genau ich wieder in der Studienstadt bin – sodass ich da noch ein paar Erklärungen schuldig bin – aber ich möchte mich auch einfach nicht ganz eingraben hier.

Nach dem Mittagessen ruft eine Kollegin an. Nachdem ja gestern eine neue Krankmeldung an die Klinik geschickt werden musste. Sie ist da. Und aus „hochoffiziellen Quellen“ wisse sie, dass ich ab dem 7. September wieder da bin und jeder rechne damit. Im Dienstplan ist alles beim alten. Plus fünf unbesetzte Dienste. Und viel Stress. Wegen Personalknappheit. Schon wenn ich das alles höre, dreht sich mir wieder fast der Magen um.
Aber man freue sich auf mich. Und habe beschlossen, dass wir als Team mehr miteinander unternehmen müssten. „Fünf Patienten kriegst Du am Anfang, mehr nicht…“, sagt sie. „Das ist lieb…“, entgegne ich. „Aber Du weißt doch, dass das eh nicht haltbar ist. Spätestens, wenn wir von der Notaufnahme am Nachmittag zugeschwemmt werden…“ Sie lacht.
Und ich… - ich habe nicht nur wahnsinnige Angst. Ich vermisse es tatsächlich. Dieses Leben von damals. Würde am liebsten Morgen wieder Teil des Teams sein. Wenn das Nervenkostüm dafür reichen würde. Wenn ich nicht an jeder Stelle in Tränen ausbrechen würde.

Später ist noch Achtsamkeit. Ich sollte mir endlich mal angewöhnen, Taschentücher mit in die Stunde zu nehmen. Auf der einen Seite ist die Musik in Verbindung mit der Stimme der Therapeutin sehr beruhigend, auf der anderen Seite holt die Ruhe immer die Trauer hoch. Und müsste ich mich nicht jedes Mal darauf konzentrieren, die Mitpatienten nicht zu stören, wäre das nicht mal schlimm. Eher ist das unglaublich erleichternd, wenn mal Jemand die Trauer ausgräbt.

Eigentlich war das Tagesziel heute lesen. Aber ich brauche nicht noch die Sorgen von fiktiven Romanfiguren. Heute… - male ich glaube ich einfach mal wieder ganz stupide Mandalas aus… Dafür habe ich schließlich auch nicht mehr lange die Zeit.

Mondkind

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