29 Monate

 Hey mein lieber Freund,
sag – wie geht es Dir?
Schon wieder ein Monat vorbei, das Ende des Jahres rückt langsam auch näher, die Weihnachtszeit hat schon begonnen – auch, wenn ich mich bisher nicht sehr weihnachtlich fühle und ich dieses Jahr noch gar nicht sicher bin, wo ich Weihnachten bin.

Du, ich muss Dir etwas sagen. Wahrscheinlich klingt das jetzt völlig abgefahren, aber…- ich spüre Dich. In letzter Zeit so sehr. Du bist so präsent bei mir.
So oft habe ich das Gefühl, dass Du hinter mir stehst, dass ich mich nur umdrehen muss, um Dein Gesicht und Dein verschmitztes Lächeln zu sehen. So oft könnte ich schwören, ich kann Deine Hand auf meiner Schulter fühlen. Und manchmal – gerade in Situationen, die schwer sind ist es, als würdest Du sagen: „Geh, geh, geh einfach Mondkind, immer weiter, so weit Dich Deine Füße tragen.“ Und dann ist es, als würdest Du mich zwischen den Schulterblättern berühren und ganz sanft ein bisschen nach vorne schubsen. Und dann atme ich tief ein und gehe einfach einen Schritt nach vorne.

Ich habe es so sehr vor Augen. Als wäre es gestern gewesen. Wie ich nach einer Therapiestunde die Füßchen vor die Ambulanz gesetzt habe, wie ich mich suchend nach Dir umgeschaut habe und wie wir dann hinter der neuen Chirurgie entlang in Richtung Café für unser Post – Therapie – Café – Date gelaufen sind. Es ist, als würde ich fast noch spüren, wie Du neben mir gehst, Deine Hand in meiner, an der mich immer Deine Ringe gestört haben, wenn wir uns an der Hand hatten. Ich glaube, ich habe das aber nie gesagt. Fast kann ich es noch spüren, wie wir eine Hand im Café über den Tisch geschoben haben, die Hand des anderen genommen haben und Du – Du hattest so wunderschöne Hände. Vielleicht achtet jede Frau auf etwas anderes bei einem Mann und mir war es so wichtig, dass die Hände schön sind. Die mich in den Arm nehmen können, mich halten, mich berühren können. Und Deine waren sehr schön.

Fast ist es, als könnte ich es noch spüren. Diesen tiefen Frieden, den ich empfunden habe, wenn wir Zeit miteinander verbringen konnten. Dann war ich – zumindest, wenn es nicht unmittelbar vor dem Examen war – ganz bei Dir. Rücken an Rücken sitzen, atmen und reden – das war eine meiner Lieblingsbeschäftigungen; neben den Cafe – Dates. Und ich vermisse diese Gespräche. Über Gott und die Welt. Mit Dir konnte ich so ehrlich und so tief reden, das habe ich seitdem nie wieder erlebt.
Und was unseren regelmäßigen Austausch über Sinn und Unsinn der Medizin anbelangt; ich sags Dir – nach bald einem Jahr Intensivstation sehe ich die Intensivmedizin schon auch kritisch. Und manchmal frage ich mich: Wenn Du das überlebst hättest, absehbar für immer schwer beeinträchtigt auf der Intensiv gelegen hättest – dieses Szenario hatte der Seelsorger mal gemalt: Was hätte ich gemacht? Und tatsächlich glaube ich, dass so viel was wir da tun nicht im Sinn der Patienten ist, die diesen Zustand wahrscheinlich nie gewollt hätten – ich würde das auch nicht wollen; niemals. Wenn die Zeit gekommen ist, von dieser Welt zu gehen, dann ist das so und dann möchte ich nicht künstlich hier gehalten werden. Ich glaube das Meiste das wir hier tun, tun wir für die Angehörigen. So hart, wie das auch ist.

Zurück zu Dir: Letztens ging es um Augenblicke. Und es gibt so Dinger, die vergisst man sein ganzes Leben nicht, oder? Ich kann mich noch daran erinnern, wie wir uns kennen gelernt haben. Du kamst auf mich zugelaufen und hast mich nach meiner Telefonnummer gefragt. Ich hatte bis dahin nie jemandem einfach so meine Telefonnummer gegeben, aber bei Dir habe ich das gemacht, ohne das großartig zu hinterfragen. Und Du meintest irgendwann mal, dass Du auch noch nie einfach so jemanden nach seiner Telefonnummer gefragt hast. („Ich wusste, dass ich das einfach machen muss und hatte Angst Dich nie wieder zu sehen, wenn ich jetzt die Gelegenheit nicht ergreife“). Und da haben sich irgendwie zwei Augenblicke, die im richtigen Moment genutzt wurden zum größten Volltreffer meines Lebens verbunden.
Du warst der größte Volltreffer meines Lebens. Ich habe letztens mal drüber nachgedacht. Bei uns gab es nie so diese rosa – rote Brille in der Beziehung. Jedenfalls kann ich mich daran nicht erinnern. Aber das war vom ersten Moment an die tiefe Überzeugung, dass wir ab jetzt für immer zusammen gehören und dass uns nichts und niemand trennen kann. Ich glaube, hätte ich die Überzeugung nicht gehabt, wäre ich nie vorrübergehend alleine in die Ferne gegangen. Wenn ich wirklich Angst gehabt hätte, dass uns das trennen könnte. Und manchmal hat mich das verunsichert, weil ich dachte, dass man doch in einer Beziehung diese Honeymoon – Phase braucht. Ich glaube nur, wir hatten vom ersten Augenblick an etwas, das darüber hinaus ging.
Ich wusste immer, dass ich großes Glück mit Dir gehabt habe. Aber wie groß das wirklich war – ich glaube, das wird mir erst zunehmend bewusst. Wo ich auch sehe, spüre und begreife, dass Beziehungen nicht generell so laufen wie das, was wir erlebt haben. Dass es – zumindest in der jetzigen Beziehung – auch viel um Vorsicht geht, um die Frage, wie viel ich zeigen darf, ohne den anderen zu überfordern. Dass ich denken muss, bevor ich rede, dass die Antennen von Menschen nicht zwingend zusammen passen und dass wir zwar vielleicht gern herum philosophieren, aber nicht unbedingt über dieselben Themen. Beziehung – so habe ich zumindest aktuell das Gefühl – ist immer ein Teil des Lebens und des Seins, aber eben nicht komplett. Du lernst nur eine Seite von dem Menschen kennen und kannst auch nie ganz derjenige sein, der Du bist. (Zumindest, wen Du irgendwann etwas anderes tun möchtest, als streiten…). Und bei Dir war es irgendwie anders. Da hatte ich nie Angst, ich selbst zu sein, weil ich wusste, dass Du alles akzeptieren kannst. Alle Stärken, alle Schwächen, die dunklen Ecken, in denen Du mich manchmal verloren hast und ich Dich, die Hochs, wenn ich doch wieder etwas auf der Arbeit auf die Reihe bekommen habe, auf das ich stolz war, wenn Du weiter gekommen bist, mit Deiner Ex – in - Ausbildung. Wir konnten uns lassen, unsere Pläne, die so unterschiedlich waren, die uns manchmal so viele hunderte Kilometer getrennt haben als Teil des anderen, aber niemals als Ausschluss dieser Beziehung wahrnehmen. Wir haben es irgendwie auf eine einzigartige Weise geschafft unsere unterschiedlichen Lebensentwürfe uns trotz der vielen Jahre Altersunterschied unter einen Hut zu bekommen, unter dem wir beide gut leben konnten. Ein Miteinander, ein Füreinander ohne Abhängigkeiten.

Ich habe gerade wieder so die Phase, in der ich jeden, der eine gewisse Ähnlichkeit mit Dir hat, für Dich halte. Ich hätte nicht gedacht, dass das so lange bleiben wird. Letztens hat mir der Paketbote einen kleinen Schreck eingejagt, weil ich Dich in ihm so sehr gesehen habe. Ich glaube, er hat sich auch gewundert, warum ich ihn so erschrocken angeschaut habe.

Du fehlst hier.
Jeden verdammten Tag. Bist Du in meinen Gedanken und fehlst. Und zunehmend wird das ein Problem, dass so ein großer Teil meines täglichen Denkens, Fühlens und Erlebens so nah bei mir bleiben muss und nicht mehr teilbar ist. Die AGUS – Gruppe ist schon lange wieder in Präsenztreffen über gegangen, aber wie soll ich denn zum Freitagabend um 19 Uhr an einem Ort knapp 100 Kilometer weg von hier sein? Eine Therapie gibt es nicht mehr. Das private Umfeld kann das nicht mehr hören. Ich denke manchmal an Deine mahnenden Worte, dass es auf dem Land mit der psychotherapeutischen Versorgung einfach noch schwerer ist, als in der Stadt und dass ich mir darüber Gedanken machen soll. Aber damals dachte ich noch, mit der – nach dem Studium auch finanziellen Selbstständigkeit – wird das kein Problem. Dass Du gehst, war nicht in meinem Plan.



Letztens hat mir eine Kollegin aus der Pflege erzählt, dass sie eine Trennung nach sieben Monaten Beziehung erlebt hat und danach sechs Jahre keine Beziehung führen konnte. Das hat mich irgendwie beruhigt. Vielleicht ist Zeit niemals ein Kriterium. Vielleicht geht es immer nur darum, wie intensiv man die zusammen erlebt hat. Und Du warst einige Jahre der wichtigste Mensch an meiner Seite. Ich muss mich nicht schämen, dass das immer noch so präsent ist (auch, wenn ich nebenbei trotzdem versuche eine Beziehung zu führe – die eben aktuell ziemlich den Bach runter geht).
Vielleicht – ganz vielleicht – fahre ich dieses Jahr nochmal in die Studienstadt. Eigentlich gibt es nicht viele sinnvolle Gründe. Lediglich ein Termin bei der alten Therapeutin, den ich auch am Telefon absolvieren könnte (wobei ich schon lieber physisch da wäre – einfach um dieses Gefühl zu haben, dass ich immer hatte, mal ganz kurz sicher mit mir und all dem Schmerz zu sein). Mein Doktorvater wartet auf sein Mikroskop, das die Arbeit dann mal endgültig besiegelt, denke ich. Und ich würde halt in die Stadt gehen. An unseren Orten vorbei. Und nach der Therapie einen Kaffee für Dich mittrinken gehen. Ich vermisse diese Therapiezeiten übrigens total. Wie war das noch mit „Ich werde Dein persönlicher Ex – In Mondkind.“ (Den könnte ich jetzt hier sowas von gut gebrauchen).

Und trotzdem – Du hast mich zu dem Menschen gemacht, der ich heute bin. Du hast mich gelehrt in all der Katastrophe, in all diesem Grau, in dem ich immer noch so oft bin, jeden guten Moment wahrzunehmen. Wir wissen nie, wo die nächste Katastrophe lauert. Du machst mich bis heute stark, wenn ich Dich hinter mir fühle und durch Dich die Motivation erhalte, einfach weiter zu gehen. Und manchmal denke ich mir: Vielleicht konnten wir es beide im Hier nicht schaffen. Vielleicht waren unsere Seelen zu verletzt dazu. Und vielleicht musste einer von uns gehen, um aus zwei Seelen Eine zu machen, die sich durch die Zeit, das Leben und Erleben tragen kann, das wir auf gewisse Art damit beide noch erleben können.
So oft tröste ich mich damit, dass ich immer noch daran glaube, dass wir uns irgendwann wieder sehen und uns bei einem ersten, unendlich langen Cafe – Date alles erzählen werden, was seitdem passiert ist.
Und ich verspreche Dir, egal was mit dem jetzigen Freund passiert – ich versuche es zu überleben, auch wenn ich befürchte, dass das schwer wird. Für Dich, für mich, für uns. Ich habe versprochen, Dich durch diese Welt zu tragen. Ich werde alles versuchen, um das zu halten. Auch, wenn dieser Schmerz der da kommt, schon jetzt kaum noch tragbar ist. Und aktuell ist es nicht mal final entschieden.

Ich liebe Dich. Und ich kann nicht in Worte fassen, wie sehr Du hier an meiner Seite fehlst. Und manchmal frage ich mich, was ich erzählen werde, sollte ich mal mit 80 Jahren in einem Schaukelstuhl sitzen. Vielleicht werde ich sagen: „Den wichtigsten Menschen meines Lebens habe ich in meinen 20ern kennen gelernt und wir durften nur wenige Jahre teilen. Aber ich spüre ihn bis heute in meinem Herzen.“ Das wäre schön, wenn ich das so sagen würde, oder?

Mondkind


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