Über ein bisschen Hilfe

 „Pooh, was war das Mutigste, das Du je gesagt hast?“, fragte Piglet.
„Ich brauche Hilfe“, antwortete Pooh.


„Frau Mondkind, wir sprechen noch“, sagt der Herr Oberarzt, als er mir am Nachmittag auf der Station entgegen gelaufen kommt. Eigentlich hatten wir das schon am Mittag vorgehabt, aber nach Weihnachten ist eben Vieles auf der Station liegen geblieben, sodass wir alle emsig dabei sind zu versuchen, alles abzuarbeiten.

Nach der Spätvisite komme ich ihm gerade mit den Kurven der halben Station auf dem Arm entgegen gelaufen, die alle noch für morgen geschrieben werden müssen, als er mich einsammelt.

„Waren Sie über Weihnachten bei seiner Familie?“, fragt er.
„Ja“, entgegne ich.
„Das habe ich mir gedacht. Und deshalb habe ich mir auch schon gedacht, dass wir heute sprechen müssen.“

„Ich glaube, das ist jetzt nicht so geschickt, aber ich glaube, ich muss etwas sagen“, erkläre ich irgendwann.
Mein ganzer Körper und meine Stimme zittern, als ich weiter rede.
„Wie akut ist das jetzt?“, fragt er.
„Naja, gestern Abend dachte ich, dass ich die Nacht nicht überlebe, jetzt im Arbeitsalltag hält mich das so ein bisschen.“

„Ich weiß halt, dass das alles ziemlich krass übertrieben ist. Aber das hier ist halt genau mein Thema und viel mehr als eine Trennung. Zum Einen ist es eben wirklich ein weiterer Verlust in der ganzen Reihe. Dinge, die wirklich wichtig waren, konnten nie bleiben. Waren immer nur kurz da.
Und dann sind halt zwischenmenschliche Verluste bei mir ein total sensibles Thema, weil das für mich ganz viel mit Sinn zu tun hat. Es sind halt immer die Verbindungen zu Menschen, gemeinsames Erleben, Teilen von Dingen, die Sinn ergeben. Und jetzt ist der Sinn mir halt wieder abhanden gekommen. Und ja ich weiß, jetzt kommen die Leute wieder und sagen: „Naja Du hast doch Medizin studiert, Du hast einen angesehenen Beruf und verdienst viel Geld“, aber das ist halt für mich komplett nebensächlich. Klar, es ist schon fein, wenn es zum Leben gut reicht, aber vom Prinzip her brauche ich das alles nicht – wenngleich die Arbeit so oft alles war, das geblieben ist.“ „Und dann sind auch 70 – Stunden – Wochen kein Problem, weil man dann zumindest irgendwo noch etwas wert ist“, ergänzt mein Oberarzt. „Ich kenne das Frau Mondkind.“
„Da trifft halt jetzt ein ziemlich kritisches Thema eine ziemlich destruktive Problemlösungsstrategie“, sage ich. „Das ist halt seit meiner Jugend so. Die Gedanken gab es, bevor ich ein Wort dafür hatte. Und ich weiß, dass es falsch ist, dass es nur Stress überall macht, aber es ist eben da.“

„Wusste Ihr Freund davon?“, fragt der Herr Oberarzt.
„Schon, ja“, entgegne ich.
„Und was hat der vorgeschlagen.“
„Nichts… - aber er ist halt mittlerweile auch weder mein Freund noch mein Therapeut, deswegen ist das schon in Ordnung, dass es ihn nicht interessiert.“
„Nein Frau Mondkind, das ist nicht in Ordnung.“




„Sie brauchen Hilfe Frau Mondkind, das geht doch so nicht. Ich kann Sie überall hin bringen, ich begleite Sie.“
„Ich habe Dienst morgen“, sage ich.
„Na und? Das ist völlig egal jetzt.“
„Ich bin noch nie nicht zum Dienst gekommen. Außerdem kann ich mir die Kommentare lebhaft vorstellen. Sie haben keine Ahnung was jedes Mal los war, wenn Mondkind wieder in der Psychiatrie war. Da hieß es, die Mondkind macht Urlaub, die Mondkind ruht sich aus, die Mondkind hat die Hälfte davon erfunden. Mir hat sehr selten jemand mein Erleben zugestanden und das macht es noch schlimmer. Das wurde alles nie als Ausdruck großer emotionaler Not betrachtet, sondern immer als Ausdruck von Langeweile oder was weiß ich.“
„Ich verurteile Sie nicht Frau Mondkind und die Menschen die das machen, müssen Ihnen egal sein.“
„Ich weiß nicht, ob das jetzt richtig ist, wenn ich Sie so nach Hause gehen lasse. Aber Sie müssen mir versprechen, sich auch zwischendurch aktiv bei mir zu melden. Ich schreibe Ihnen meine Telefonnummer auf; Sie rufen mich an, auch nachts um Vier.“
Ich nicke.

Ich weiß nicht, ob das jetzt richtig war. Ich möchte nicht, dass sich jetzt noch ein Mensch sorgt. Auf der anderen Seite hilft es gerade glaube ich nur, das Leben an externe Verantwortlichkeiten zu hängen, weil ich es selbst einfach nicht mehr tragen kann.

Der Herr Oberarzt redet von Vergewaltigung der Seele über Weihnachten.
„Ich hätte das wahrscheinlich nicht gemacht, hätte ich nicht noch einen Funken Hoffnung für uns gehabt. Und begreifen kann ich das immer noch nicht. Ich verstehe das einfach nicht. Absolut gar nicht. Und natürlich ist es dasselbe Resultat wie immer. Ich bin nie irgendwo wirklich gewollt worden. Irgendwann ist immer aufgefallen, dass die Mondkind kompliziert und komisch ist.“

Heute habe ich erstmal Dienst, bis Freitag wird das mit Hilfe des Oberarztes schon laufen und was danach ist… - nobody knows…

Nur damit Ihr wisst... - die nächsten Tage bin ich erstmal einigermaßen sicher. Wie es im neuen Jahr weiter geht - keine Ahnung.

Mondkind


Bildquelle: Pixabay

Kommentare

  1. depressives_einhorn28. Dezember 2022 um 22:01

    Hey Mondkind, ich musste lange über einen Satz nachdenken... Ich glaube nicht dass du komisch oder kompliziert bist. Ich glaube dein Ex-Freund war in manchen Punkten überhaupt nicht kompromissbereit und hatte auch zu hohe Erwartungen an dich und hat dir auch nicht etwas Zeit die du vielleicht gebraucht hättest zugestanden. Daher denke ich es liegt nicht (nur) an dir sondern auch viel an ihm.
    Ich wünsche dir so sehr dass du einen Platz findest an dem du bleiben kannst und bin mir aber auch sicher dass es den gibt bei den richtigen Menschen, denn dich erlebe ich hier als sehr lieben, lustigen und reflektierenten Menschen dem das Leben und einige Menschen sehr viel zugemutet haben- leider.
    Viel Kraft für dich!!

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    1. Hallo depressives Einhorn,
      Danke Dir erstmal für Deinen lieben Kommentar und Deine aufmunternden Worte.
      Das mit der Zeit - da gebe ich Dir Recht. Da haben gerade heute der Oberarzt und ich drüber geredet, dass da emotional aus den alten Geschichten mit meiner Familie wohl noch so viel übrig ist, dass das einfach mehr Zeit gebraucht hätte.
      Ansonsten... - wo immer ich von uns beiden erzählen, finden die Menschen sein Verhalten schon auch nicht ganz korrekt und versichern mir immer wieder, dass es nicht nur an mir gelegen haben kann. Und trotzdem frage ich mich natürlich, was ich falsch gemacht habe und wo ich mehr hätte auf ihn zugehen müssen. Denn auch wenn ich im Moment mit dieser ganzen Katastrophe irgendwie zurecht komme, aber ich hätte mir das natürlich gern erspart.
      Liebe Grüße
      Mondkind

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