Von einem Wochenende im Advent

 Freitag.
Dienst.
Einer der katastrophalsten Dienste meiner bisherigen Karriere. Zum Einen liegt das bestimmt daran, dass es der dritte Dienst innerhalb von einer Woche ist. Zum Anderen aber auch daran, dass ich in dieser Nacht 14 Patienten aufnehme und die alle wirklich neurologisch krank sind. Wenn man von den 14 Patienten fünf Rückenschmerzen – Patienten hat, ist das relativ einfach, aber so war es nicht. Und ich habe eine Menge Dinge gemacht, die man auch hätte anders entscheiden können. Einen Alkoholisierten habe ich lysiert. Klar – eine Gangstörung kann man da jetzt nicht beurteilen und eine Sprechstörung auch nicht, aber der hatte reproduzierbar eine Hemiparese. Trotz dessen, dass er sturzbetrunken war. Wenn der jetzt im MRT keinen Schlaganfall hat, ist das gut für ihn… - aber schlecht für mich. Ich habe ein Missmatch – MRT im erweiterten Lysezeitfenster gemacht – auch das erste Mal; bei uns gibt es diese Möglichkeit der erweiterten Lysezeitfenster noch nicht so lange und das Vorgehen kenne ich nur aus einer Mail, die mal herum geschickt wurde. Am Ende konnten wir nicht mehr lysieren. Und dann hatte ich nachts um vier noch einen nur rumänisch sprechenden Patienten mit einer Stammganglienblutung der ganz knapp an der neurochirurgischen Intervention vorbei geschrabbt ist und dementsprechend wenig stabil auf unserer Stroke Unit lag. Das war auch nicht ganz einfach.
Und wenn man dann morgens um 5 einfach nur einen Patienten auf die Station schicken möchte und hört „Mondkind, die Station ist voll, ich darf keinen mehr nehmen“ (und natürlich haben die Kollegen vor dem Wochenenden Betten frei geräumt, aber die habe halt alle ich alleine wieder aufgefüllt), dann ist das auch weniger cool. Dann darf man die Stationen abtelefonieren und fragen, wer so gnädig ist noch einen Patienten aus einer anderen Fachrichtung zu nehmen und hundert Mal versprechen, dass wir in der Früh eine Lösung finden und den Patienten baldmöglichst auf unsere Station zurückholen.
Den einzigen Rückenschmerzpatienten den ich hatte, habe ich den Neurochirurgen überlassen. Bandscheibenvorfall seit drei Monaten, keine Linderung unter dreifacher Schmerzmedikation und Physio – da können auch die Neurochirurgen es weiter konservativ versuchen, aber wahrscheinlich wird es in den nächsten fünf Tagen auch nicht besser und können mit dem Patienten dann eine OP – Indikation aufgrund von therapieresistenten Schmerzen diskutieren.
Irgendwann morgens um sieben habe ich einfach nur noch geweint vor Erschöpfung. Nichts dokumentiert, seit über 24 Stunden nicht geschlafen und unsicher, ob ich alles richtig gemacht habe. Manchmal ist in diesen Diensten auch einfach nichts cool. Obwohl ich doch ganz am Ende meist ein bisschen stolz auf mich bin. Dass ich wenigstens irgendetwas kann.

Ich bin erst Samstag nach dem Mittag nach Hause gefahren. Habe schnell geduscht und bin ins Bett gehüpft. Kennt Ihr das – wenn man so müde ist, dass absolut nichts mehr geht, ist der größte Laubhaufen plötzlich das bequemste Bett der Welt…
Den Wecker hatte ich auf 18 Uhr gestellt. Eigentlich wollte ich nämlich noch einkaufen, aber ich war so erschlagen, dass ich beschlossen habe, dass die Vorräte schon noch reichen bis Montag. Und der Freund hatte am Nachmittag zwei Mal angerufen, habe ich beim Aufwachsen gesehen. Ich dachte mir, ich wasche erst in Ruhe meine Haare, koche mir einen Tee und ziehe um auf das Sofa. Wir haben uns sicher ohnehin nicht viel zu sagen und schweigen die meiste Zeit am Telefon, das können wir auch zwei Stunden später tun.

Als ich aus der Dusche komme und gerade einen Tee gekocht habe, klingelt es plötzlich an meiner Haustür. Ich ignoriere das erstmal. Ich erwarte niemanden, für Postboten ist es zu spät (obwohl ich nichts erwarte) und ich habe immer Angst die Tür zu öffnen, wenn ich nicht weiß, wer da ist. Plötzlich sehe ich aus dem Augenwinkel, dass das Handy klingelt.
Und da wird mir klar, was los ist. Der Freund steht vor der Tür.

Auf Besuch bin ich absolut nicht vorbereitet. Die Wohnung wollte ich mal im Urlaub aufräumen, mit dem Dienstmarathon der letzten Tage bin ich einfach nicht dazu gekommen. So richtig vernünftige Dinge zu essen habe ich auch nicht im Haus.
Und trotzdem ist diese erste Umarmung nach zwei Wochen so sehr emotional. Den Geruch von diesem Menschen wieder in der Nase zu spüren, seine Arme auf meinem Rücken zu fühlen, sein Gesicht an meinem, der erste Kuss nach so langer Zeit. Es hat mir so sehr gefehlt.
Er hat sich Sorgen gemacht, sagt er. Weil ich nicht ans Telefon gegangen bin. Wo ich doch letztens noch geschrieben habe, dass alle Kanäle auf laut sind, falls er sich doch meldet. Und er wusste natürlich nicht, wie schlimm dieser Dienst war. Früher habe ich ihm am Ende des Dienstes oft eine Sprachnachricht gemacht, aber das mache ich nicht mehr. Und dann lag ich zu einer Zeit, zu der ich normalerweise schon wieder wach bin, damit ich nachts noch schlafen kann, im Bett und habe noch geschlafen.
„Ich habe – als ich auf meinem Fahrrad saß darüber nachgedacht – ich glaube, ich hatte noch nie so viel Angst in meinem Leben. Ich hatte Angst, dass Du Dir das Leben genommen hast.“
Er kennt mich gut genug um zu wissen, dass das im Zusammenhang mit unserer Trennung Thema wird. Und dennoch  tut es mir leid, dass er da so gelitten hat. (Mich wundert nur tatsächlich, dass er nicht offensichtlich wütend ist).

Wir reden nicht mehr so viel an diesem Abend. Zaubern aus den noch vorhandenen Vorräten zwischendurch ein passables Abendessen und liegen ganz viel auf dem Sofa. Am Liebsten habe ich es, wenn er hinter mir liegt und er mich ganz fest in seinen Armen hält. Es hat mir gefehlt, dieses Gefühl.
Und während wir da so liegen ist es so, als würden wir nochmal so tun, als ob einfach nichts wäre. Als wäre jede Umarmung und jeder Kuss ein Versprechen an uns und unsere Zukunft, als wüssten wir nicht, dass wir nicht wissen, ob das hier eines der letzten Male ist, dass wir so liegen können. Ich versuche wie ein Schwamm jeden Moment aufzusaugen. Denn während ich das bisher irgendwie verdrängen konnte, dass das mit uns so endlich scheint, ist es jetzt so klar. Das hier muss vielleicht für immer reichen. Und dennoch bin ich nach all den Jahren so hungrig nach diesem zwischenmenschlichen Sein, dass es wahrscheinlich nie reicht.

Am nächsten Morgen brauche ich immer noch lange, bis ich irgendwie wach werde. Um neun kriecht der Freund schon mal zu mir unter die Decke und bleibt dort eine halbe Stunde, ehe er schon mal aufsteht. Ich möchte eigentlich nicht so viel später aufstehen, aber am Ende steckt er um elf Uhr wieder den Kopf zur Tür herein und weckt mich.

Später sitzen wir auf dem Sofa unter eine Decke gekuschelt, die Wärmflasche zu unseren Füßen, schauen den Flocken beim Fallen zu und reden. „Immerhin ist er hier am dritten Advent“, denke ich mir zwischendurch. Und stelle fest, dass ich es so viel schöner finde, wenn er hier ist, statt wenn ich bei ihm bin. Obwohl er gestern ankam wie ein Eisklotz und diese Temperaturen sich einfach nicht mehr  für eine weite Radtour eignen.
Es geht immer noch um das Thema Sexualität zwischen uns. Und darum, dass es für ihn einfach ein großes Bedürfnis ist und das für ihn einfach eine Grenze darstellt. Wenn ich da einfach anders bin als er, dann ist das ein Trennungsgrund. Und ich habe versucht mich darauf einzulassen, ihm in seinem Bedürfnis irgendwie nachzukommen, aber ich muss auch mittlerweile zugeben, dass das nicht so richtig klappt. Für mich ist das bislang einfach nur Quälerei und daraus sind viele Aggressionen entstanden, die auch die Beziehung belastet haben. „Ich weiß, dass Du das nicht magst, aber wie es für uns weiter geht, hängt zu hundert Prozent an Dir. Und Du musst da ehrlich zu Dir selbst sein“, sagt er. Herausfinden, ob das wirklich etwas damit zu tun hat, dass ich da absolut kein Bedürfnis habe und das eher überaus abstoßend finde, oder ob das irgendetwas mit Scham oder weiß ich nicht was zu tun hat. Ob es da Schwierigkeiten gibt, die ich lösen könnte.
Zeit habe ich bis nächstes Wochenende. Bis dahin steht die Beziehung auf Pause. (Ob wir uns in der Zeit hören dürfen oder nicht, weiß ich nicht...) Sonst gibt es eine Trennung am vierten Advent, pünktlich vor Weihnachten. Beschissener könnte das Timing irgendwie nicht sein. 

 




Und wenn wir über Trennung reden, reden wir natürlich auch über Suizidalität.
Ich war gefühlt mein halbes Leben lang suizidal, das war immer die Bewältigungsstrategie, wenn der Schmerz zu groß geworden ist, schon seitdem ich Kind bin (und nicht mal ein Wort dafür hatte)  – warum soll sich das plötzlich ändern? Und ja – es ist nicht mehr so wie früher. Ich habe gelernt was es heißt Hinterbliebener eines Menschen zu sein, der sich das Leben genommen hat. Ich weiß, wie viel Druck das auf das Umfeld ausübt. Und das tut mir unendlich leid. Die Strategie ist auch nicht, den Freund dadurch in dieser Beziehung festzuhalten. Wenn er gehen will, dann muss er gehen. Aber ich merke, dass meine Schmerztoleranzgrenze erreicht ist. Ich wünschte, ich hätte eine bessere Lösung dafür, aber ich habe sie einfach nicht. Ich bin nicht mehr bereit, mit so viel Schmerz in mir leben zu müssen, wenn es absolut nichts gibt, das ich dagegen stellen kann.
Und ich merke, dass mich das unendlich traurig macht. Denn eigentlich hänge ich schon am Leben. Und ich habe das so sehr genossen, als ich im Sommer mal in der Lage war, in die Zukunft zu denken. Urlaubspläne für in einem halben Jahr zu machen. Das gab es sonst nicht. Da denke ich nur von einem auf den nächsten Monat. Wenn überhaupt.
Ich würde gerne hier bleiben können. Aber der Schmerz auf den Schultern wird zu viel sein. Und ehrlich gesagt weiß ich nicht, was heute in einem Monat ist. Und es tut weh, das zu realisieren.

Der Freund sagt, suizidal werden nur die Menschen, die keinen Sinn im Leben haben. Und dummerweise geht es da um einen emotional gefühlten Sinn. Natürlich ist es sinnvoll Neurologin zu sein, von Zeit zu Zeit vielleicht doch mal etwas Gutes und Richtiges zu tun. Oder den verstorbenen Freund weiter im Hier zu halten dadurch, dass ich immer noch über ihn spreche. Eine Wand zu sein, die das Leid nicht weiter gibt, sondern es trägt.
Aber Sinn ist für mich eben auch zwischenmenschliches Erleben. Aufgehoben sein in Beziehungen. Leben und Erleben teilen zu können. Gemeinsam Dinge zu erleben. Erinnerungen zu schaffen. Ein zu Hause für eine eigene, kleine Familie. Und ich denke, das hat mich auch in diesem Sommer so stabil gehalten. Aber mit der Trennung vom Freund würde es weg fallen.
Und ich wäre wieder die Mondkind, die für die anderen da ist, aber selbst so wenig glücklich mit dem Leben ist. Und den Schmerz um den nächsten Verlust auf den Schultern trägt.

Und ich glaube, es ist nicht richtig, das alles für mich zu behalten, nur um die anderen zu schützen. Natürlich schäme ich mich für diese Gedanken, aber sie sind eben da und sie gehen nicht einfach so, weil ich das gern so hätte. (Und dem Freund muss ich versprechen, dass das hier alles bis zum nächsten Wochenende gut geht...)

Ich glaube, es gab noch nie einen besseren Grund im Urlaub in die Studienstadt zu fahren, als jetzt.
Ich könnte auf jeden Fall zwei Freunde besuchen, mit denen ich die Thematik vielleicht noch mal besprechen könnte. Das Mikroskop im Labor vorbei bringen – mein Doktorvater möchte es ohnehin zurück haben. Und das Gespräch mit der Therapeutin gibt es auch noch. Ob ich persönlich vorbei kommen kann, hat sie mir immer noch nicht gesagt, aber eigentlich sollte nichts dagegen sprechen und zur Not telefonieren wir halt doch. Das kann ich von hier und in der Studienstadt tun.
Und so nebenbei würde ich den Fluss nochmal sehen, würde vielleicht eine Runde über den Weihnachtsmarkt drehen können – denn bisher war diese Weihnachtszeit offensichtlich einfach nur beschissen.
Und ich könnte halt mit Frau Therapeutin versuchen die beiden Themen zu besprechen. Ich weiß nicht, ob sie mir in irgendeiner Weise helfen kann, das Thema Sexualität für mich zu lösen. Und vielleicht können wir irgendeinen Notfallplan erarbeiten in dem Fall, dass es doch auf Trennung hinaus läuft. Wobei das eine heiße Kiste wird. Die man aber eben wenigstens lieber persönlich bespricht, statt am Telefon. Ich will halt nichts von Psychiatrie hören. Das bringt nichts. Wieder raus aus dem Alltag, wieder wochenlang in der Klinik, was die Probleme auch nicht löst. Ich möchte irgendetwas finden, das alltagstauglich ist. Dass mir vielleicht so lange eine Schiene im Leben sein kann, bis ich trotz dieses Schmerzes vielleicht wieder etwas finde, für das es sich zu leben lohnt. 

Und dennoch ist es nach wie vor so, dass das Auto eigentlich nicht mehr so viele Kilometer fahren darf bis zur Inspektion und ich wollte ja Reifenwechsel im Frühling und Inspektion eigentlich verbringen. Ich habe einfach nicht viel Zeit - wobei ich nächstes Jahr wahrscheinlich auf die Stroke Unit gehe und ich damit ohnehin Spätdienste machen muss; also kann ich auch mal frühs durch die Felder zum Autohaus spazieren. Das sind exakt fünf Kilometer zu Fuß. Also eigentlich ist alles gut und trotzdem beunruhigt es mich nach wie vor. Aber eine Woche hier zu sitzen ohne wen zu sehen, ist auch irgendwie blöd.

Und am Rande hat mir die Mutter des verstorbenen Freundes im Dienst noch geschrieben.
Nachdem ich am Grab des Freundes war und sie sich ein Foto von seinem Grab auf meinem Handy anschauen wollte, ringt sie schon lange mit dem Gedanken den Mut zu fassen, auch mal vorbei zu gehen. Und da ich ihr gesagt habe, dass ich – wenn ich das nächste Mal komme – ihm eine Kerze mitbringe, möchte sie in der nächsten Zeit schon mal „auf den Hügel gehen“, wie sie sagt (der Friedhof ist auf einem Hügel) und ihm ein Licht vorbei bringen.
Ich habe kaum etwas Schöneres von ihr gehört bisher. Das bewegt mich so sehr, dass seine Mama ihm ein Licht bringen möchte, dass sie und ich – wir beide – ihn endlich wieder besuchen können, nach all der Zeit.


Mondkind


Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Drittes Staatsexamen - ein Erfahrungsbericht

Reise - Tagebuch #2

Von einem Gespräch mit dem Kardiochirurgen