Gedanken am letzten Tag des Jahres

 Bist du ein Wunderkind oder vor Wunder blind
Sag' mir ob du verstehst, dass wir ein Wunder sind
Diese Welt wird für Wunder immer blinder
Wenn du sie sehen kannst bist du ein Wunderfinder

(Alexa Feser feat. Curse - Wunderfinder)


Atmen.
Und in irgendetwas und irgendwen vertrauen.
Am letzten Tag dieses Jahres.
Der so anders ist, als es gedacht war.

Für mich ist das eigentlich ein wichtiger Tag.
Als wäre er ein Abschluss des Alten und ein Versprechen für das, was kommt.
Aber ich hoffe, dass dieser Tag keine Vorschau für das neue Jahr wird.

Die Wohnung ist geputzt. Die zweite Maschine Wäsche läuft. Ich war einkaufen.
Ein ganz normaler Samstag aus früheren Zeiten.
Als hätte jemand die Zeit mal um acht Monate zurück gedreht.

Ich lasse die letzte Woche Revue passieren. Es ist so viel passiert, dass man meinen könnte, dass es für mindestens einen Monat reicht.
Und manchmal glaube ich, ich bin auch irgendwie ein Wunderfinder. Heute Nacht ist mir klar geworden, dass ich die ganze Situation so wie sie jetzt ist ganz sicher nicht gebraucht hätte. Aber wenn es nun schon so ist, dann hätte ich vielleicht nicht mehr Wunder finden können. Es war so eine glückliche Fügung, dass ich meinen Oberarzt hatte, der ein offenes Ohr für mich hatte, der mich irgendwie durch diese ersten Tage des Chaos gezogen hat, in denen ich gefallen bin, ohne den Boden überhaupt nur zu sehen. Der nicht verurteilt hat, obwohl ich so viel Angst davor hatte. Und der dann irgendwie aus dem Nichts – ich hatte wirklich absolut keine Ahnung – seine Frau gekramt hat, die im Rahmen eines semi – professionellen Helfersystems erstmal auffangen kann. Hoffentlich. Wie hoch war die Wahrscheinlichkeit, dass das so laufen kann? Und es war ja auch nicht das erste Mal, dass ich hier im Ort in der Ferne – nachdem ich das ja eigentlich alles in der Studienstadt schon hinter mir lassen wollte – versuche eine therapeutische Anbindung zu bekommen. Ich habe alles abtelefoniert (also psychologische Berater:innen natürlich nicht…), mehrfach, aber das hatte scheinbar auch von den Kollegen im Haus niemand auf dem Schirm – die potentielle Bezugsperson hat die Therapeutensuche ja auch mitbekommen. Von daher wäre es das Letzte, mit dem ich gerechnet hätte.

Ich bin gespannt. So Erstgespräche haben es immer in sich. Ich habe meist weniger ein Problem mit Menschen zu reden, die ich zumindest im Alltag schon erlebt habe. Mich emotional auszuziehen, nur weil das in diesem Rahmen so vorgesehen ist, ist immer ein bisschen schwierig. Aber ich gebe mir Mühe und versuche mir zu sagen, dass mein Oberarzt und diese Frau immerhin verheiratet sind; und wenn ich ihn mag, dann kann ich vielleicht auch sie mögen und mich ihr öffnen.

Was in solchen wirklich sehr schweren Lebenssituationen immer gehalten hat, waren zumeist Menschen, die bis dahin nicht unbedingt zum engen Kreis in meinem Leben gezählt haben. Das war wirklich ausnahmslos immer so. Und was ich immer gespürt habe – und auch jetzt spüre – ist eine ganz tiefe Dankbarkeit. Und wenn es für mich einen Sinn in der Medizin gibt und warum ich das doch mache, obwohl ich mich dafür nicht freiwillig entschieden hätte, dann ist es vielleicht der, ein bisschen von meinem Wunder weiter zu geben, das ich immer wieder erleben durfte. Für Menschen nicht nur medizinisch – sondern ganz menschlich da zu sein, wenn sie es am Meisten brauchen. Ich habe in so manchen Nachtdiensten an Betten gesessen und mir Lebensgeschichten angehört. Einfach, weil diese Menschen das gerade brauchten. So wie ich das diese Woche auch brauchte.
Und das sind meist Erlebnisse, die man auch Jahre später noch gut und mit tiefer Dankbarkeit im Herzen im Gedächtnis hat.

Gestern Abend hat der Freund nochmal angerufen. Ich habe mir eine Weile überlegt, ob ich ihn zurück rufe, oder ob das zu sehr weh tut. Ich habe mich dann entschieden, ihn anzurufen und ihn zu fragen, was er möchte. Sich nach mir erkundigen, wie es mir geht, sagte er. Das fällt ihm ja reichlich früh ein.
Während des Telefonates spüre ich, dass ich schon wieder anfange innerlich, aber auch äußerlich zu zittern. Und ich bemerke: Auch, wenn ich mich von dem Schmerz gerade versuche etwas zu distanzieren, auch wenn ich mich versuche darauf zu fokussieren, dass ich gehalten und getragen werde in diesem Schmerz, wird das noch ein sehr langer Weg.
Der Freund spricht davon, dass er viel nachgedacht hat und sehr „schwankend“ in Bezug darauf ist, ob er die richtige Entscheidung getroffen hat. Wir reden über das Fundament von Beziehungen und dass unsere Ansichten da einfach verschieden sind. Für mich ist das Fundament einer Beziehung ein Zwischenmenschliches. Das Leben mit dem anderen zu teilen, gegenseitig Verantwortung zu übernehmen, sich gegenseitig ein Stück des Herzens zu schenken und zu tragen. Es bedeutet füreinander da zu sein, Zeit miteinander zu verbringen, Dinge zu erleben und Erinnerungen zu schaffen. Gespräche führen über das, was einen tief im Inneren bewegt. Schwierigkeiten gemeinsam zu meisten, den anderen auch teilhaben zu lassen, stolz aufeinander zu sein, sich gegenseitig zu halten und zu stützen.
Für ihn ist das aber anders. Und ich wäre bereit gewesen, das Fundament auf dem die Beziehung steht zu erweitern und seine Wünsche da auch mit hinein zu nehmen, wenn es für ihn wichtig ist. Aber wir haben nie so richtig darüber geredet. Das Fundament das er braucht hatte ich irgendwann begriffen, wenn auch nicht so extrem, wie er das gestern formuliert hat; ich glaube mein Konzept hat er nicht verstanden. Ich weiß auch nicht, ob er so feinfühlige zwischenmenschliche Antennen hat, wie ich. Ich begreife nicht, wie man das nicht für absolut essentiell halten kann, aber vielleicht hat es etwas mit der emotionalen Tiefe zu tun, von der mein Oberarzt gesprochen hat.
„Egal wo dieses Schwanken endet – es ändert an der Situation jetzt sowieso nichts mehr“, habe ich irgendwann gesagt. Und aus dem langen Schweigen seinerseits am Telefon habe ich gedeutet, dass ihn das mehr verletzt hat, als es sollte. Vielleicht ist er doch nicht mehr ganz auf dem Stand, dass ein weiterer gemeinsamer Weg absolut nicht vorstellbar ist. Ich weiß es nicht.
Ich weiß aber, dass er mir so sehr weh getan hat, dass ich das fast nicht überlebt hätte. Und ich weiß, dass mein Herz da auch viel wollen kann, aber der Verstand jetzt einfach auch dabei sein und aufpassen muss. Und ich lerne immer mehr, dass ich mich zwar zu großen Teilen selbst ins Leben kämpfen musste – mit Hilfe des verstorbenen Freundes – und oft gedacht habe: Wenn ich das geschafft habe, schaffe ich alles allein, aber dass es manchmal Sinn macht, auf die Großen zu hören. Und da hieß es von Beginn an, dass die erste Beziehung nach dem Tod des Freundes schwer wird, dass ich mir überlegen soll was ich mache, wenn das nicht klappt und dass das schon mal in allererster Linie unklug ist, eine Beziehung mit seinem ehemaligen Therapeuten zu führen. Nicht, weil das moralisch verwerflich wäre, sondern weil das die Vollkatastrophe wird, wenn das in die Brüche geht, weil es quasi doppelten Verlust bedeutet. Und dass das alles okay ist, solange ich sicherstelle, nicht völlig alleine zu sein – zum Beispiel indem man sich nebenbei einen neuen Therapeuten sucht.
Ich habe jetzt erlebt, was die Menschen meinten und dass ich da ziemlich naiv war und habe es bis hierher durch das Wunder der letzten Woche überlebt, auch wenn ich immer noch nicht über den Berg bin. Aber ich würde keinen zweiten Versuch mehr ohne funktionierendes Helfersystem wagen, ohne das Wissen, dass ich mir Unterstützung, Rat und Hilfe holen kann, wenn ich sie brauche. 

 



Mal sehen, wie ich den heutigen Abend verbringe.
Sehr ruhig wahrscheinlich. Und sicher wird es einige Tränen geben. Den letzten Jahreswechsel habe ich immerhin mit dem Freund verbracht – natürlich noch vor unserer Beziehung – und ich werde mich heute Abend daran erinnern, wie wir aufgeschrieben haben, was wir aus dem alten Jahr loslassen wollen und die Zettel dann verbrannt haben. Ich werde mich erinnern, wie wir auf einem Hügel oberhalb der Klinik standen und ein paar wenigen Raketen auf dem Weg in den Himmel zugeschaut haben und ich mich still gefragt habe, wie im nächsten Jahr irgendetwas besser werden soll, wenn ich doch gerade wieder in der Klinik sitze. Ich werde mich erinnern, dass der spätere Freund ganz nah hinter mir stand, dass ich mein Herz gefühlt habe und das neben der Tatsache, dass ich es so insgeheim schön fand, unglaublich beängstigend war und ich mich sehr geschämt habe gegenüber dem verstorbenen Freund.

Apropos verstorbener Freund: Seine Mama hat mir nochmal geschrieben und ein Foto geschickt. Es gibt mittlerweile nicht nur Lichter, sondern auch Blumen an seinem Gab. Sie möchte auch noch einen Engel und ein paar Steine besorgen. Zweieinhalb Jahre nach seinem Tod finden wir langsam so viel Frieden, dass wir Schritt für Schritt lernen das zu tragen. Dass wir ihn gedanklich wieder in unserer Nähe ertragen können und dabei sogar ein bisschen Frieden fühlen. Auch seine Mama meinte, sie hat mehr Frieden gefunden, seitdem sie ihn da oben auf dem Friedhof oberhalb der Stadt besucht hat.
Ich bin unglaublich stolz auf sie und auf uns beide.

Und jetzt allen Lesern: Einen guten Start ins neue Jahr. Und neben ganz viel Gesundheit wünsche ich viel Frieden. Auf der Welt generell – das wäre schön, wenn die Menschen ein bisschen menschlicher miteinander umgingen und sich auf einer ehrlichen und echten Ebene begegnen würden. Und viel Frieden im Leben eines jeden Einzelnen. Ich wünsche wunderbare Erlebnisse, die dann Geschichten des Jahres 2023 schreiben werden, auf die wir vielleicht irgendwann dankbar und mit einem Lächeln zurück schauen werden.
Und für alle, die heute Abend auch alleine sind: Es geht vielleicht mehr Menschen so, als man denkt. Und es geht vorbei. Und morgen ist ein ganz normaler, neuer Tag. Für mich ist Dienst.


Mondkind


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