Die letzten Worte des Jahres

Es ist so gut, dass ich es vermeiden konnte heute Abend arbeiten zu gehen.
Der letzte Abend des Jahres ist emotional. Immer.
Ich weine immer. Und weiß manchmal gar nicht warum.

Heute Abend schreibt mir eine ehemalige Mitpatientin aus der Klinik vom letzten Jahr. Wir wollten eigentlich schon vor Weihnachten mal telefonieren, hatten es dann aber nicht mehr geschafft. Ich hatte ihr die Tage eine Sprachnachricht geschickt, mich entschuldigt und erklärt, dass ich einfach keinen Kopf dafür hatte, weil sich mein Freund von mir getrennt hat. Und wer dieser Freund war, das weiß sie auch.
„Mondkind, ich habe ein paar Tage gebraucht um zu antworten, weil mich Deine Nachricht so geschockt hat. Ihr hättet Euch noch gut mehr Zeit geben können, aber das lag ja offensichtlich nicht in Deiner Hand. Ich erinnere mich gerade heute Abend so gut an die Zeit vor einem Jahr und wie wir da den Jahresübergang begangen haben. Man hat Euch das angesehen; in jeder Gruppenstunde damals. Ich – und ich glaube auch die anderen – haben diese Verbindung zwischen Euch gespürt, vielleicht bevor Ihr Euch das selbst eingestehen konntet. Ich weiß auch gerade gar nicht, was ich sagen soll. Fühl Dich einfach getragen und melde Dich, wenn Dir danach ist.“

Das letzte Silvester war das Erste und wohl auch das Letzte, das der Freund und ich miteinander verbracht haben. Ich werde nie vergessen, wie wir da „in Stille“, das wurde mehrfach betont, dass  wir nicht reden sollen, in den Park gelaufen sind mit unseren Zetteln in der Hand, was wir los lassen wollen. Ich weiß, dass er nicht so weit von mir entfernt lief und ich in dieser Stille mein Herz gespürt habe. So ein aufgeregtes Kribbeln im Bauch. Es war das erste Mal, dass ich das nicht mehr leugnen konnte. In mir.
Und viel später an diesem Abend, kurz nach Mitternacht stand er so nah neben mir.
Ich wünschte, ich könnte ihn heute Nacht von der Klinik abholen. Ich wünschte, wir hätten heute Nacht einen Moment nur für uns. In dem wir beide zusammen – nur wir für uns – noch mal diese Erlebnisse vor einem Jahr hätten rekapitulieren können. 

 

Naja, nicht das beste Bild - war auch eigentlich nicht erlaubt ein Handy im Haus zu haben - aber das trägt immer noch ein bisschen Wärme in sich. Dort sitzt der ehemalige Freund heute Abend.



Später ruft noch eine Kollegin aus dem Dienst an; fragt mich ob ich eine Patientin kenne. „Die habe ich gesehen in meinem letzten Dienst, die war synkopiert, hatte vor Jahren mal einen epileptischen Anfall, aber das war anamnestisch deutlich eine Synkope. Im CT und in der Gefäßdarstellung war nichts. Wieso – was willst Du mir sagen? Hat sie jetzt nochmal einen epileptischen Anfall gehabt?“
„Nein Mondkind, sie hat eine Meningitis.“
„Bitte was?“
„Ja, mit massiven Kopfschmerzen, Meningismus, Lichtempfindlichkeit, Lärmempfindlichkeit.“
„Shit, bei mir hatte sie im Verlauf über leichte Ohrenschmerzen links geklagt, aber da hatte ich nichts draus gemacht. Die hatte keine Kopfschmerzen…“
Ich mache mich schon wieder ziemlich verrückt, etwas übersehen zu haben. Wer synkopiert denn erst und hat dann eine Meningitis… ?
„Mondkind, mach Dich nicht verrückt, die hat Freitagmittag noch eine Oberärztin mit Kopfschmerzen gesehen, Du warst nicht die Letzte.“
Fucking shit. Jetzt kriegt wieder jeder mit, dass ich jemanden in die Kardio abgeturft habe, der zu uns gesollt hätte. So viel zum Thema Kompetenz.

Am Abend schaue ich die Silvestershow am Brandenburger Tor. Das mache ich häufig am Silvesterabend – früher haben wir das auch manchmal als Familie gemacht.
Sehr gute Künstler heute, befinde ich. Musik, die dazu einlädt, nochmal ein paar Dinge Revue passieren zu lassen. „Stille“, von Jupiter Jones habe ich letztes Jahr in der Klinik eine zeitlang auf Dauerschleife gehört. Calum Scott mag ich sehr gern.
Und irgendwie macht die Musik das Denken doch immer ein bisschen frei.
Ich denke nochmal an die Woche, die hinter mir liegt und mir wird bewusst, dass der Oberarzt mit all seinem Anschieben irgendetwas erreicht hat in mir. Wie oft habe ich gehört „Sie brauchen jemanden, der Sie jetzt stark macht – Sie haben nämlich alles was Sie brauchen in sich und wissen es nicht. Im Moment sind Sie wie ein Fass ohne Boden, aber das bleiben Sie nicht.“ Oder sein „Bitte packen Sie es jetzt an Frau Mondkind.“ Oder ein „Frau Mondkind, im Herbst möchte ich Sie wieder so sehen, wie Sie im Sommer waren.“ Oder ein „Meine Frau kriegt das hin mit Ihnen, die kann das. Die ist wirklich gut“ Und natürlich auch ein „Aber tun müssen Sie es eben selbst.“
Ich denke nochmal darüber nach, was für ein „Undulieren“, wie er sagte, meine Psyche in den letzten Jahren hingelegt hat, was für ein trauriges Eingeständnis das ist, dass es nie nachhaltig gut geworden ist und wie sehr das mein Leben beeinträchtigt hat und weiterhin tut.
Und irgendwie hat mir das nochmal ein bisschen neue Motivation verpasst. Kein Therapeut, kein psychologischer Berater oder wer auch immer wird mich je retten – auch, wenn ich das vielleicht gern hätte oder vielleicht immer ein bisschen gehofft habe, dass das möglich ist. Mir wird niemand meinen Freund zurück bringen, den verstorbenen Freund wird auch niemand mehr lebendig machen. Meine Biographie wird sich nicht nachträglich ändern lassen. Und es wird sich auch nicht verhindern lassen, dass neue Probleme in mein Leben treten.
Aber ich kann lernen, damit Frieden zu finden. Ich kann lernen, in mir selbst Frieden zu finden. Ich kann mehr Selbstbewusstsein entwickeln, ich kann versuchen endlich mal Strategien anzunehmen und umzusetzen, die verhindern sollen, dass alle Lebensereignisse, die schwierig sind, mich so in der Tiefe treffen, so am Fundament rütteln. Und vielleicht kann ich eine so starke und liebevolle Beziehung zu mir selbst aufbauen, dass ich am Ende ein zu Hause auch in mir selbst finden kann. Dass ich in mir ruhen kann, schöne Dinge auch bewusst alleine tun kann und das Privileg schätze, mein Leben teilen zu dürfen, aber dass es auch okay ist, wenn es Zeiten gibt, in denen das nicht so ist.
Der Herr Oberarzt meint, das wird alles möglich sein. „Frau Mondkind, Sie sind kein hoffnungsloser Fall. Es wird harte Arbeit. Aber Sie haben so viel geschafft, das kriegen wir hin.“ (Es gibt einen Vortrag von seiner Frau im Internet, den habe ich mir jetzt auch mal angehört... - das ist auch alles nicht soooo schlecht... mal sehen... )

Ich möchte glauben, dass es klappt.
Ich möchte glauben, dass 2023 gut wird.
Ich möchte glauben, dass ich eine starke Mondkind werden kann. Die alles spüren, alles fühlen, alles wahrnehmen kann, aber die besser mit ihren zwischenmenschlichen Antennen zurechtkommt. Die selbstbewusster werden kann, die sich nicht mehr in ihrem Job vorkommt, als hätte sie nie Medizin studiert. Ich möchte glauben, dass mein Oberarzt Recht hat und ich möchte bereit sein so an mir zu arbeiten, dass das klappt. 

Und neben ganz viel Traurigkeit, Vermissen und Sehnsucht, fühle ich mich heute Abend wirklich ein bisschen getragen, gehalten und gesehen. Es ist ein komisches Fühlen. Wie das Herz irgendwie bricht und gleichzeitig doch irgendetwas hält.


Jetzt gleitet aber alle erstmal gut ins neue Jahr
Mondkind

 

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Drittes Staatsexamen - ein Erfahrungsbericht

Reise - Tagebuch #2

Von einem Gespräch mit dem Kardiochirurgen