Reisetagebuch #5 Rückreise und Gedanken

Zurück am heimischen Schreibtisch.
Mit einer Tasse Kaffee.
Die letzten Tage nochmal Revue passieren lassen.
Die Eindrücke des heutigen Tages verarbeiten.

Ich habe heute Nacht im Gästezimmer geschlafen. Ich hatte den Freund ja schon ganz optimistisch im Sommer zu meinem Papa geschleppt (Ihr erinnert Euch, wo wir auf der Hinfahrt plötzlich angefangen haben über Trennung zu reden; das erste Wochenende vom zweiwöchigen Herbsturlaub…) und damals hatten wir auch das Gästezimmer im Keller. Also liege ich jetzt auf der Seite des Bettes, auf der damals der Freund gelegen hat.
Ein komisches Gefühl. Ob wir hier je nochmal zusammen auftauchen?
Ich frag mich manchmal, wo der Anfang dieser Krise war und vielleicht war das der Anfang. Obwohl wird kurz danach in Dresden waren und das echt nochmal sehr, sehr gut war; die besten drei Tage des Jahres würde ich behaupten.
Auf jeden Fall wird mir plötzlich bewusst, dass ich den Freund doch sehr doll vermisse, was ich ihm schreibe. Aber natürlich antwortet er nicht.
Ich scrolle mal ein bisschen unsere Nachrichten durch. Da hat sich schon viel verändert, stelle ich fest. Früher hat er sich auch mal Mühe gegeben beim Nachrichten schreiben. Da haben wir uns auch mal über den Tag verteilt geschrieben, da war es mal ein bisschen lustig und ironisch zwischendurch (immer unmissverständlich durch einen Smiley gekennzeichnet), da gab es von ihm mal ein Herz zwischendurch. Das gibt es alles nicht mehr. Das sind heute alles rein formelle Nachrichten. Er behauptet zwar immer noch er würde mich lieben, aber behaupten kann man viel. Und es sind natürlich nicht nur die whatsApp – Nachrichten, sondern sein ganzes Verhalten mir gegenüber, das die zwischenmenschlichen Skepsis – Antennen anspringen lassen. Ich befürchte da ist seinerseits viel verloren gegangen; aber zeigen will er das wohl noch nicht. Insgesamt wirkt er auf mich oft so, als wären wir ein Paar, weil es sich halt so eingeschliffen hat, aber nicht, weil er das wirklich will und richtig findet.

Heute Morgen frühstücke ich noch bei meinem Papa, dann räume ich meine Sachen zusammen fahre am Vormittag los, zurück in den Ort in der Ferne. Heute ist die Fahrt echt ungemütlich. Es liegt allerhand Dreck auf den Straßen, der sich bald an der Autoscheibe wieder findet, aber es ist so kalt, dass das Wischwasser sofort an der Scheibe festfriert und ich dadurch noch weniger sehe. Also halte ich ungefähr an jeder Tankstelle und frage nach den Eimern mit Wischwasser, die alle irgendwo drinnen stehen - manche Tankstellen haben sie direkt auch mal abgeschafft – sinnvollerweise (nicht).  Aber wenn es einen solchen Eimer gibt, dann reichen den alle an der Tankstelle solidarisch dem Nächsten weiter. Alle Autofahrer sitzen hier im selben Boot heute. Ich muss etwas langsam fahren, weil ich insbesondere gegen die Sonne mit der dreckigen Scheibe, die immer innerhalb weniger Kilometer wieder so dreckig ist, als hätte ich sie nie geputzt, nicht viel sehen kann.
Irgendwann fahre ich durch eine wunderbare Schneelandschaft und sehe, dass auf dem Lieblingsberg wieder Schnee liegt. Heute kann man das Radom auf dem Berg sehen; die Sicht muss toll sein. Eigentlich ein Grund, um mit dem Freund nochmal hin zu fahren. So… - rein theoretisch. Es liegt allerdings ein sehr ernstes, vielleicht letztes, eher weniger spaßiges Wochenende vor uns.

Bei meinem Papa...

Auf dem Weg mache ich mir nochmal über meine Mama Gedanken. Über die Gespräche und Vorfälle dort. Und irgendwie spüre ich eine Menge Wut. In einem Gespräch ging es nochmal ein bisschen um die Vergangenheit. Mit der Anorexie, das war ja schon eine ernste Sache zu Jugendzeiten. Und irgendwann hat auch eine Ärztin unserer Mutter in unserem Beisein mal ins Gewissen geredet. Letzten Endes war das gefährliches Untergewicht, das meine Schwester und ich da hatten und da war der sehr eindringliche Rat, sofort eine ambulante Therapie zu beginnen (sie hat einen Therapeuten ein paar Städte weiter empfohlen) oder am Besten direkt erstmal die Klinik. Und dann meinte meine Mama zu mir die Tage: „Ich wollte das ja damals für Euch nicht – nicht dass so eine Behandlung Euch noch geschadet hätte; wer weiß, was die mit Euch gemacht hätten…“ Hallo…?! Ich kann mich außerdem an etwas ganz anderes erinnern; nämlich dass meine Mama sofort argumentiert hat, dass wir ja keine Zeit hätten noch ein Mal in der Woche ein paar Städte weiter zur Therapie zu fahren; immerhin würden in der Zeit die Hausaufgaben liegen bleiben und Klinik schon mal absolut gar nicht geht, weil wir dann ja eventuell keine Klasse wiederholen müssten. Hat sie der Ärztin genau so gesagt, die dann auch nicht mehr wusste, was sie sagen soll. Und ich kann mich erinnern, dass ich gedacht habe: Ich würde gerne irgendeine Form von Hilfe haben, wie auch immer; meinetwegen auch Klinik, Hauptsache dieser Wahnsinn hört auf.
Ich bin irgendwie okay damit, dass man die Dinge nicht mehr ändern kann. Ich würde das meiner Mama auch nicht mehr aktiv vorhalten, auch wenn ich schon glaube, dass natürlich über die Symptomatik nie eine Auseinandersetzung mit meinem Körper meinerseits stattgefunden hat und ich alles, was mit Weiblichkeit zu tun hat, einfach super abstoßend finde, was mich jetzt gegebenenfalls die Beziehung kostet. Aber ich verstehe auch, dass Eltern ihren Kindern grundsätzlich nicht schaden wollen. Was ich ihr aber sehr wohl übel nehme ist, dass sie jetzt irgendwie versucht die Verantwortung, die sie als Mutter eben hatte, insbesondere wenn Fachpersonal sich besorgt zeigt, irgendwie abzuschieben. Ich glaube mittlerweile begreift sie, dass dieses exorbitant übertriebene Leistungsdenken verbunden mit allen damit einhergehenden Leitsätzen über den Selbstwert und einer damit einhergehenden Dekompensation, die nie richtig aufgefangen wurde, nicht der richtige Weg war. Aber das kann sie jetzt nicht umdrehen und so tun, als hätte sie uns nicht behandeln lassen aus Sorge um unser Wohlergehen – das ist der absolut größte Schmarrn, den ich je gehört habe. Um Wohlergehen ging es nicht. Sie hat es nicht getan, weil sie Angst hatte, dass meine Schwester und ich damit nicht mehr Klassenbeste sein werden; aus keinem anderen Grund. Obwohl wir immer wieder kommuniziert haben, dass das höchstens für ihr Ego, nicht aber für uns wichtig ist. (Also schon klar, dass ich auch einen eigenen Anspruch hatte, aber Zweiter hätten es für mich auch getan…) Und das kann sie ruhig zugeben. Ich glaube auch, sie hat sich nie mit dem Thema Anorexie beschäftigt und dass das so viel mehr ist, als einfach ein Nichtessen, was die meisten Betroffenen übrigens auch quält. Das ist keine Freude. Es ist paradox, dass in diesem langsamen Verschwinden ein ganz lauter, erstickter Hilfeschrei steckt, weil es nicht möglich war, sich anders Gehör zu verschaffen - aber das ist wahrscheinlich bei vielen Betroffenen so. (Und deshalb – was meint Ihr, was viele Jahre später los war, als ich dann wirklich in der Psychiatrie gelandet bin, nachdem ich so viele Jahre versucht habe, einfach weiter zu funktionieren? Das war die Hölle und ich hatte damals Ausgangssperre nicht wegen Eigengefährdung, sondern wegen meiner Familie. Weil die Angst hatten, dass meine Familie mich zu Hause festhält und nicht mehr zurück in die Klinik lässt und den Stress wollten die sich selbst und mir ersparen).
Denn die Diskussion die Tage ging weiter: „Mondkind, ich glaube ja nicht, dass Du je depressiv warst.“ Nein, muss sie nicht glauben. Ist okay. Ist auch keine Diagnose, mit der man sich jetzt unbedingt schmücken muss. Aber in der weiteren Ausführung Depression und Faulheit gleichzusetzen ist… - schwierig.
Und im Gesamten beweist das mal wieder: Es ist gut, dass ich weg von dort bin und nicht mehr plane mit ihr unter einem Dach zu leben. Nie wieder. (Es ist nur die Frage, ob ich je ein zwischenmenschliches zu Hause finde…)

Und während ich mit aufgedrehter Musik (ich verstehe nicht, wieso der Freund keine Musik im Auto hören mag, ich finde das so entspannend…) weiter durchs Land fahre, denke ich an das Wochenende. Ich muss ehrlich gestehen trotz allen Theaters, das diese Beziehung auch war, habe ich im letzten halben Jahr das Leben lieben gelernt. Es gab so viele Goldmomente, so viel Wunder dazwischen, manchmal wollte ich weinen vor Glück, dass ich eigentlich nicht bereit bin, das her zu geben.
Und dennoch hätte ich mir sehr oft im Leben gewünscht, dass ich mein Leben an genau dieser Stelle abgeben darf. Nachdem es noch ein Mal okay war, nach einem letzten Tanz durchs Licht, nachdem ich noch mal alle Leute gesehen habe, die mir wichtig waren. Nachdem ich nochmal meine Runde durch die Studienstadt gedreht habe, mich dem verstorbenen Freund nah gefühlt habe.
Mal schauen, was raus kommt morgen. (Ich habe noch nicht so richtig einen Plan…) Ich würde es mir nicht wünschen für mich selbst, aber tief im Innen weiß ich, es wäre okay. Genau jetzt wäre es okay. Genau jetzt könnte ich sagen, dass sich die Quälerei der zwei Jahre nach dem Tod des Freundes für irgendetwas gelohnt hat. Aber, dass es sich vielleicht nicht weiterhin lohnt.

Auf dem Weg halte ich noch am Supermarkt und kaufe schon für den Dienst am Montag ein. Eigentlich müsste das Auto noch in die Waschanlage, das sieht einfach aus wie ein Ferkel, aber mein Papa hat mir bei den Temperaturen dringend davon abgeraten. Jetzt ist es nur so – wenn wir wirklich zu den Eltern des Freundes fahren, kann ich da nicht mit einem so versifften Auto ankommen. Da muss ich mir noch etwas einfallen lassen; zur Not muss ich am Dienstag mit Eimer und Lappen zum Auto los ziehen.
Als ich gerade meine Sachen rein bringe und schwer bepackt ankomme, laufe ich dem Postboten in die Arme. (Ihr kennt die Geschichte mit dem Postboten mittlerweile…). Er sieht mich, hält mir die Tür auf. Ich bedanke mich und wir wechseln drei Worte. Und für mich ist es so, als hätte der verstorbene Freund gewartet und nachgeschaut, ob ich auch wohlbehalten wieder angekommen bin. Ein bisschen ist es, als würde er sagen: „Schön, dass Du gut angekommen bist Mondkind, trotz der Straßenverhältnisse heute.“
(Ich habe die Leute in der AGUS – Gruppe, die solche Geschichten erzählt haben, immer für dezent bescheuert gehalten und vielleicht sind das auch nur Hirngespinste, aber eigentlich ist es egal, solang wie es gut tut).

Heute Abend wird nicht mehr viel. Ich muss mich noch um die Wäsche kümmern und den Haushalt machen. Am Montag habe ich schon wieder Dienst und zu wie viel ich am Dienstag komme, ist daher mal so die Frage.


Mondkind


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