Fallen

 Es ist irgendwie merkwürdig.
Dass der wichtigste Mensch des letzten Jahres einfach so verschwindet.
Dass er noch irgendwo sitzt und lebt und atmet – nur eben nicht mehr Teil meiner Welt ist.
Dass wir nicht mehr einfach so unseren Tag teilen können. Uns gegenseitig um Rat fragen können.
Dass wir den anderen nicht mehr neben uns fühlen können.

Von einen auf den anderen Tag.
Einfach so.
Es hat etwas von Sterben. Nicht physisch. Aber emotional. Plötzlich ist diese Verbindung einfach nicht mehr da.

Es ist, als sei das Seil zwischen zwei tanzenden Menschen einfach so zerschnitten worden.
Und jetzt tanzt wieder jeder seine eigenen Pirouetten durch ein eigenes Leben.

Menschen sind komisch.
Teilen so viel und plötzlich nichts.
Tun so, als hätten sie sich nie gekannt, dabei waren sie monatelang alles füreinander.
Und irgendwie macht das Angst.
Wir wissen nie, was morgen ist. Niemals. Aus Gründen, die man irgendwie nicht mal richtig kennt, kann plötzlich alles kippen.
Ich weiß immer noch nicht, was ihn so verändert hat. Früher habe ich ihm sogar öfter mal aus dem Dienst eine Sprachnachricht gemacht. Einfach, wenn mal wieder alles zum Kotzen war, ich sieben Patienten gleichzeitig hatte und das war nicht böse gemeint. Er hat sich nie beschwert. Nur kurz vor unserer Stille ist das alles plötzlich völlig eskaliert und es hieß man dürfe nichts teilen, das dem anderen nichts nützt.
Das war eine der vielen Eskalationen.

Mein Hirn schmeißt unterdessen alles durcheinander. Ich glaube nicht mal, dass diese Trennung jetzt das Schlimmste ist. Ja, ich hätte nicht damit gerechnet, obwohl jeder um mich herum es hat kommen sehen. Sagen die Menschen jetzt.
Ich glaube immer noch, dass es der Schmerz von damals ist.
Nachts gehe ich die alten Nachrichten durch und bin dankbar für jede Sprachnachricht.

Es ist ein Gefühl von so tiefer Einsamkeit, dass ich nicht mehr weiß, wohin damit.
Für wen bin ich noch wichtig?
Für wen wäre das wichtig, dass ich auf dieser Welt bleibe?
Jeder um mich herum lebt in seiner eigenen Welt, in der ich keinen Platz habe. Und selbst dem Freund geht es ganz gut, sagt er. Und ich – ich befinde nicht, dass ich einen Platz in dieser Welt brauche. Ich habe genug gesehen. Genug Schmerz gefühlt. Die meiste Zeit meines Lebens. Und außer arbeiten bis zum Umfallen bleibt wohl nicht viel in einer Mondkind – Welt. 




Nachdem der Freund gestorben ist, habe ich mir so sehr noch einen guten Sommer gewünscht. Mit jedem Tag, der vergangen ist seit seinem Sterben, mehr. Damit es sich am Ende gelohnt hat. Dieses Leiden. Damit ich nach all der Dunkelheit wenigstens noch ein Mal Pirouetten im Licht tanzen darf. Noch ein Mal spüren darf, wie das Glück den Körper flutet, wie die Pirouetten sich anfühlen, als seien sie fünf Zentimeter über dem Boden getanzt. Um noch ein Mal zu fühlen, wie das ist, wenn die Schwere des Lebens nicht auf den Rücken drückt. Wenn die Sonne nicht nur den Körper, sondern auch die Seele wärmt, wenn da noch ein einziges Mal eine Mondkind ist, die spontan und verrückt ist, die Pläne schmiedet, die etwas erleben möchte.
Noch ein Mal ich selbst sein, bevor es dann für immer dunkel werden darf.

Es ist schwer zu sagen, ich bin okay damit.
Weil ich im Sommer gedacht habe, vielleicht werden die alten Mondkindpläne mit einer Partnerschaft, einem zwischenmenschlichen zu Hause, einer Familie irgendwann, mit einer Mitte, in die ich wirklich hingehöre, wirklich noch wahr.
Aber ich weiß, dass die Mondkind von vor einem Jahr mehr als okay wäre. Wenn ich mir etwas hätte wünschen dürfen, wäre dieser Sommer mehr gewesen als das, was ich je für realistisch gehalten hätte.
Und so schwer, wie es auch ist – aber so viel Erleben mit diesem Menschen, der jetzt so still ist, war ein riesiges Geschenk, das auch nie hätte existieren müssen. Es hätte auch sein können, dass die Mondkind sich auf den Weg machen muss, bevor sie das Licht nochmal gesehen hat.

Mal sehen, was heute wieder abgeht auf der Arbeit. Gestern hat man mich für einen Tag auf die periphere Station versetzt, wo ich mal 13 Patienten inklusive Chefarztvisite und Aufnahmen geerbt habe. Und dass ich in einer Stunde nicht 13 Patienten kennen lernen kann, hat der Chef mal schnell vergessen. Abends halb 9 waren zumindest alle Katastrophen halbwegs aufgefangen – hoffe ich zumindest. Indes ist die Besetzung heute auf der Intensiv so eine Katastrophe, dass ich Früh- statt Spätdienst machen soll – und da ich ja jetzt wieder zeitlich flexibel bin, kann ich das machen. Dann habe ich nur heute noch eine Chefarztvisite. Und zum Betriebsarzt muss ich noch; das hatte ich eigentlich extra vor Arbeitsbeginn gelegt, das liegt jetzt mitten drin, aber da kann ich auch nichts dafür. Da könnte ich ja auch Kotzen; wenn ich meine ich muss zum Arzt, gehe ich da schon hin… wenn dem auch noch irgendetwas einfällt, was ich jetzt erledigen muss, kriege ich einen Vogel. Die schicken dann nämlich immer weiter zum Hausarzt - auch für irgendwelche Impfungen, statt das mal schnell selbst zu machen.
Die Leute sollen mich einfach alle in Ruhe lassen. Einfach still sein.

Dass dieser Dezember noch schlimmer wird als der Letzte, hätte ich irgendwie auch nicht gedacht. Aber es scheint so zu sein.


Mondkind


Bildquelle: Pixabay

Kommentare

  1. Auch wenn ich finde, dass du da einem wirklich sehr fest "toxisch" sich anfühlendem Käfig durch diese Trennung entfliehen konntest...
    So tut es mir dennoch von ganzem Herzen unfaasbar leid, dass dieses echt unfassbare Glück, welches du im Sommer mit ihm erleben durftest, nun so toxisch wurde, so dass eine Trennung unvermeidbar schien... Es scheint also etwas daran zu sein, dass Beziehungen zwischen "Patienten und Therapeuten" tatsächlich keine gute Ausgangslage zu sein scheinen für eine gesunde Beziehung auf Augenhöhe. ZuRecht ist dies argwöhnisch anzuachauen, denn ein Machtgefälle birgt erhebliche, emotional heftig traumatisierende Folgen.. . Ich habe durch deine Schilderungen nochmals aus anderer Perspektive sehr viel deutlicher den Eindruck bestätigt bekommen (kenne das aus sehr persönlichen Gründen ebenfalls aus Sicht von mir als Tochter einer Mutter, die Kinder- und Jugendpsychiaterin ist) , dass das Klischee, Menschen, die selber psychisch angeknackst sind, tendenziell (!!) halt eher einen Beruf in diesem Bereich aufsuchen..Um nochmals zu Dir & Deiner Beziehung - unabhängig der eh schon moralisch höchst komplexen Problematik - empfand ich bei dem, was er dir emotional an den Kopf schleuderte sehr schwer verdaulich & liess mich oft wütend & zugleich ohnmächtig fühlen. Mir scheint viel eher (nach aufmerksamen Lesens deiner Zeilen) dass ihm der Facharzt zurecht entzogen wurde; so hart es klingt. Ich hoffe nur, dass er dies nicht nochmals macht (wo auch immer er nun noch tätig sein darf). Du bist viel mehr Therapeutin, wie er viel mehr der Patient ..Es tut mir trotzdem arg fest für DICH leid, dass du so sehr wieder Mal enttäuscht wurdest...

    Du bist in meinen Augen eine äusserst liebenswerte, beeindruckende,
    junge Frau!!!! Das spür ich so sehr!I!! Ich wünsche dir alles erdenklich Gute in deiner Verarbeitung dieser Trennung!!!!!! Herzlich; Nicole alias "fechtkuenstlerin06"

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