Reisetagebuch #1

Ich bin unterwegs.
Und deshalb gibt es ein Reisetagebuch.

Montagmorgen.
Ich bin schon sehr früh wach und kann nicht mehr schlafen.
Ich rechne nochmal die Kilometer hin und her. (Wen es nicht interessiert --> Weiter zum nächsten Absatz ;)  ) Bisher bin ich eigentlich noch im Rahmen, nach der Reise werde ich es nicht mehr sein. Aber ist das schlimm? Wo soll ich denn von Januar bis April noch hin fahren? Urlaub werde ich ohnehin auch keinen haben…
Aktuell bin ich bei 12.500 Kilometer, 20.000 dürfen es bis zur Inspektion werden; alles eingerechnet dürften das bis Ende der Woche 1000 Kilometer werden, sollte ich wirklich noch mit dem Freund zu seinen Eltern fahren über Weihnachten werden das auch noch mal rund 600 Kilometer, dann kommen wir bei 14.100 Kilometern raus, mit irgendeinem Puffer rechnen wir mal mit 14.300 und dann bleiben immer noch 5700 Kilometer für drei Monate. Zum Freund sind es rund 70 Kilometer, unter der Woche werde ich dann wahrscheinlich nur noch selten fahren, weil die Dienstpläne ab Januar andere sein werden; da gibt es zwischendurch eingeschobene Spätdienste nicht mehr, das macht dann mit fünf Wochenenden pro Monat (die auch nicht jeder Monat hat) 350 Kilometer + ein Mal vielleicht doch unter der Woche sind 420 Kilometer. Auf drei Monate gerechnet sind dann 1260 Kilometer und dann bleibt immer noch mehr als genügend Puffer.
Also alles ganz entspannt… - eigentlich. Ich kann mich trotzdem nicht entspannen…

Ich liege in meinem Bett, habe mich an die Wärmflasche gekuschelt und erinnere mich an gestern.
Ich hoffe, ich kann in dieser Woche irgendwie für mich klären, wie das mit uns weiter gehen soll. Ich kann mir noch nicht vorstellen, diesen Menschen gehen zu lassen. Und wie soll ich die emotionalen von den rationalen Aspekten trennen? Ich würde alles geben, das ich irgendwie geben kann, damit es ein „wir“ bleiben kann. Ich vermisse ihn schon jetzt wieder so sehr.
Aber dann muss ich mir eben auch im Klaren sein, dass ich das packe. Wenn wir beschließen wir bleiben zusammen und dann kriege ich wieder innerlich einen Vogel wenn er mir an die Wäsche will, dann bringt das alles nichts. Und ob ich das Problem bis Sonntag lösen kann? Ich möchte das stark anzweifeln.

Ich frage mich, ob das wirklich Sinn hat, in die Studienstadt zu fahren. Ob man die Dinge nicht telefonisch lösen kann? Ich könnte auch mit meinem Kumpel telefonieren (ich glaube mit ihm hat es wirklich Sinn nochmal zu reden, die andere Freundin besuche ich zwar auch sehr gern, aber Gespräche über Beziehungen sind mit ihr sehr schwer, weil sie selbst schon so viele gescheiterte Beziehungen erlebt hat, dass sie da kaum neutral dran gehen kann und laut ihrer Meinung sind alle Männer sowieso Idioten mittlerweile).
Mit meiner Mama (eine andere Schlafmöglichkeit ist so kurzfristig schwer zu organisieren), das kann einigermaßen okay werden – aber auch ein Schuss in den Ofen. Wobei man ehrlich sagen muss, dass dieses Haus, in dem ich früher auch gelebt habe, nicht nur eine einzige Müllhalde ist (okay, nach diesem Wochenende würde der Freund sagen, dass meine Wohnung das auch ist…), sondern dadurch, dass ich so viele Jahre nicht da war und die letzten Jahre auch nur sehr sporadisch auch nochmal die Mondkind von früher anstuppst und weckt. Und vielleicht kann das ein bisschen helfen die Frage zu beantworten: Wo möchte ich Sinn im Leben finden? Ich glaube nämlich, jeder junge Mensch hat irgendwelche Träume, Ideen und Visionen. Und manchmal werden die halt leider vom Umfeld begraben, weil es da Menschen gibt, die diese jungen Menschen gern formen würden – vielleicht damit sie in ihr Bild von Sinn passen. Aber Sinn ist für diese jungen Menschen vielleicht etwas ganz anderes und obwohl ich das nie ganz benennen konnte, bin ich innerlich schon als Kind auf die Barrikaden in dieser Familie gegangen. Leider halt nicht laut nach außen – denn laut durfte man ja nicht sein. Nach Innen. Die Antwort, die Bewältigungsmechanismen waren Depressionen und Suizidalität, hat mir der Freund am Wochenende nochmal erklärt.
Und dann geht es natürlich auch viel um die Therapeutin. Ich habe keine Lust, dass das wieder so ein Gespräch mit „naja es ist ein bisschen schwierig, aber irgendwie doch ganz okay“ wird. Wo die Frage ist, wer da wen beschwichtigen möchte. Ich die Therapeutin oder mich selbst? Wir müssen echt ein bisschen Klartext reden und beide Themen sind unangenehm. Ich habe mit ihr all die Jahre über nie über Sexualität geredet und Suizidalität ist auch ein ziemlich schweres Thema. Und da finde ich es eben sehr fair das persönlich und nicht am Telefon zu besprechen. Denn ich glaube – auch wenn ich ihr natürlich sagen werde, dass ich vorerst noch auf mich aufpassen kann und auch vorhabe das weiter hin zu tun – aber ich denke sie muss – ohne sehr wütend auf mich zu werden – zumindest Handlungsspielraum haben und wissen, dass sie mich in die Psychiatrie stecken könnte, wenn sie wollte. Wenn ich 400 Kilometer weit weg sitze, wird es da eher schwierig. Und mittlerweile hat sie geschrieben und ich darf morgen kommen – da sind mir echt erstmal Backsteine von den Schultern gefallen und ich hoffe so sehr, das bringt mich morgen ein bisschen weiter. Nicht, dass sie jetzt die endgültige Lösung haben soll; die muss ich schon selbst finden – aber ein paar Gedankenanstöße, mit denen ich konstruktiv weiter arbeiten kann.

Irgendwann halb acht beschließe ich, dass im Bett bleiben ohnehin keinen Sinn mehr hat und ich auch aufstehen kann. Ich verkneife mir ein „guten Morgen“ an den Freund, ich weiß nicht, ob er das cool findet – er hat ja von Pause geredet. Ich räume schon mal ein paar Sachen auf mein Bett, die ich später einpacken werde, setze mich mit einem Tee ins Wohnzimmer und schreibe die ersten Zeilen des Jahresrückblickes. (Ich liebe so ruhige Morgen einfach so sehr… ). Später muss ich nochmal in die Stadt und etwas erledigen.

Es ist früher Nachmittag, bis ich los komme.
Mir war nicht klar, dass das Navi mich mitten durchs Land scheucht, durch die Berge, dort wo minus acht Grad sind und Schnee liegt. Ich fahre fast am Lieblingsberg vorbei; sicher liegt dort oben Schnee und kurz überlege ich mir anzuhalten und Fotos zu machen, aber ich bin ohnehin spät dran. Und ich denke daran, dass ich am liebsten den Freund schnappen würde und mit ihm hier hoch fahren würde, damit wir gemeinsam durch den Winter unter gezuckerten Bäumen her wandern können – hier taut es nicht mehr, hier bleibt alles liegen und malt eine wunderhübsche Winterlandschaft. 


Altes Bild von der Fahrt in die Geburtsstadt mit dem Freund. Den hätte ich mir heute auch auf den Beifahrersitz gewünscht.


Je weiter ich in Richtung alter Heimat komme, je mehr mir die Ortsnamen vertraut sind, desto mehr zieht sich in mir auch irgendetwas zusammen.
Ich denk über Heimat nach und dass die irgendwo verloren gegangen ist. Sie ist nicht mehr hier, nach all den Jahren, aber in der Ferne ist sie auch nicht. Ich lese vermehrt den Ortsnamen des Ortes, in dem der verstorbene Freund zuletzt gewohnt hat und denk an ihn.

Und ganz am Ende fahre ich – aus der Richtung komme ich selten, aber rund um die Studienstadt war viel Stau, deshalb hat das Navi mich anders gelenkt – durch die Stadt, in der ich zur Schule gegangen bin. Den Weg, den ich täglich mit dem Schulbus gefahren bin.
Es ist eine eigenartige Art von Nostalgie. Gemocht habe ich die Schule auch oft nicht. Da war viel Druck. Leistung durch Anerkennung. Ich war gut genug am Ende, aber das war zwischendurch nicht so klar. Und auch mehr als 10 Jahre nach dem Abi bin ich immer noch nicht glücklich geworden.
Und manchmal würde ich gern wissen, wer ich bin. Was mich antreibt. Wo ich eigentlich hin möchte. Ich glaube nämlich, ich weiß das gar nicht... ("Wir hätten vielleicht einfach noch ein paar Jahre Therapie machen sollen, bevor wir es mit einer Beziehung versuchen", meinte der Freund letztens, hat mich dann noch ein bisschen mehr zu sich ran gezogen und ich habe noch ein bisschen mehr geweint. Vielleicht bin ich echt zu kaputt für dieses Leben. Vielleicht ist das nicht immer richtig, auf das Herz zu hören, obwohl es mich bisher so selten falsch geleitet hat. Aber manche Dinge liegen vielleicht jenseits des Horizontes einer Mondkind).

Gerade sitze ich in meinem alten Kinderzimmer.
Ich bin gespannt, was die Tage hier bringen.
Gerade merke ich, dass mir ganz viel fehlt. Dass ich diesen Sommer mal geglaubt habe etwas gefunden zu haben das trägt, aber ob es bleiben kann. Ich vermiss den Freund und frag mich, wo wir nächste Woche stehen werden. Und so oft wünsche ich mir, es wäre einfach so wie früher. Als wir abends telefonieren konnten, als wir uns noch etwas zu sagen hatten, als alles okay war und ich geglaubt habe, dass es jetzt endlich gut wird. Und ich hätte irgendwie gern Plätzchen gebacken mit dem Freund. Vielleicht mache ich das morgen hier bei meiner Mama. Mal schauen. Wie es mir so geht nach der Therapie...


Mondkind


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