Von Abhängigkeiten und Parallelen

Ich sitze mit einem Kaffee im Arztzimmer.
Die zweite Nacht hintereinander mit nur wenigen Minuten Schlaf hat mich doch an meine Grenzen gebracht. Der Intensivdienst war leider gar nicht so ruhig. Um kurz nach 21 Uhr ging der Notfallalarm und dann war ich die ganze Nacht mit einer Patientin aus der Reha beschäftigt. Zu allem Unglück ist auch ausgerechnet an diesem Abend unser Dokumentationssystem gewartet worden, sodass wir Untersuchungen auf Papier anmelden mussten, das Labor uns telefonisch alle Werte durchgeben musste, wir im System nicht nach Vorbefunden und Voruntersuchungen schauen konnten und eine Dokumentation erst ab halb 2 Uhr nachts wieder möglich war.

Die Patientin ist knapp an einer Intubation aufgrund respiratorischer Insuffizienz vorbei gerutscht, am Ende habe ich sie mit einer NIV – Maske über die Nacht gebracht.
Nachdem ich mich in der Nacht noch mit den Kardiologen auseinander gesetzt habe, ständig die Herzenzyme kontrollieren musste und mir Gedanken über mögliche neue neurologische Defizite machen musste, da sie gerade erst einen Schlaganfall hatte, hat sich am Ende herausgestellt: Pulmogene Sepsis.
An das mit der Sepsis muss ich mich auch noch gewöhnen. Schon meine letzte Sepsis im Dienst kam aus dem Nichts, die Entzündungsparameter waren (noch) gar nicht so dramatisch, nur das Procalcitonin war schon explodiert und die Leitung, bis ich begriffen hatte, dass es nichts anderes als eine Sepsis ist (was schlimm genug ist, aber nicht noch einen Herzinfarkt dazu oder ähnliches), war ein bisschen lang.
Aber der Oberarzt war zufrieden mit meinen Maßnahmen der Nacht und so langsam gehe ich doch noch unter die Basis – Internisten.

Und da ich offensichtlich so sehr müde aussehe, besorgt mir die Kollegin einen Kaffee vom Kiosk.
„Fährst Du zu Deinem Freund?“, fragt sie.
„Nee – heute sowieso nicht, weil ich ja morgen früh wieder arbeiten muss. Und auch sonst ist das gerade schwierig.“
„Was war nun schon wieder?“
„Wir haben letztens nochmal geredet und ich dachte da gibt es mal ein basales Verständnis füreinander, bis er meinte, dass wir uns halt trennen müssen, wenn ich mit seinen in der Beziehung aufgestellten Regeln nicht leben kann. Und naja – wo sind wir denn hier? Wer sagt, dass er die Regeln aufstellt und ich danach tanzen muss.“
„Mondkind, das ist ja wie in den 70 – ern oder so“, entgegnet die Kollegin. Macht eine kurze Pause, denkt nach und setzt noch mal an. „Mondkind ich verstehe das nicht. Ich kann verstehen, dass Du ihn liebst und alles, aber Du brauchst das doch nicht. Du bist doch so eine hübsche und unabhängige Frau. Du musst Dich doch keinen Mann unter ordnen. Du hast einen Job, den Du gut machst, Du verdienst Dein Geld, Du hast eine Wohnung, endlich jetzt auch ein Auto. Du hast alles, was Du brauchst. Und ich verstehe, dass Du nicht alleine sein willst und Dich nach einer Partnerschaft sehnst, aber das muss doch nicht so jemand sein. Du findest doch jemand, mit dem Du eine Beziehung führen kannst, in der Du Dich nicht unter ordnen musst, damit sie weiter bestehen bleibt.“
Ich nicke und sage erstmal nicht viel dazu. 


Wichtiges Equipment für die Nacht... - wenn auch das Stethoskop und die Lampe auf der Intensivstation am Wichtigsten sind...


Im Laufe des Tages, im Halbschlaf in meinem Bett, denke ich nochmal darüber nach.
Ich habe so viel Abhängigkeit im Leben gehabt. Ich war ständig irgendwo abhängig. Und dass es eine der mehr oder minder bewussten Strategie meiner Mama war, meine Schwester und mich in der Abhängigkeit zu halten, damit wir bloß nicht selbstständig werden und das elterliche Nest verlassen – sie hatte und hat nämlich auch sehr viel Angst vor Einsamkeit – habe ich ja schon mal erarbeitet.
Es war alles vorgegeben und wir waren immer isoliert. Die Gleichaltigen um uns herum sind groß geworden, zunehmend erwachsen, während unsere Welt Schulbücher und Leistung waren. Weil ich das natürlich auch in gewisser Weise nicht begriffen hatte, dass Anerkennung über Leistung irgendwie nicht so cool ist. Und dass man da auch immer hinterher laufen wird. Weil es immer irgendetwas gibt, das blöd läuft. Das ist überhaupt kein Konzept, aber – so wie jedes Kind – wollte ich natürlich auch irgendwo gemocht werden und einen Platz haben dürfen und das schien der Weg zu sein. Dann ging es weiter mit dem Studium – da kann man sich natürlich heute fragen, wieso ich nicht spätestens dort rebelliert habe. Und auch hier waren wir in dieser Blase gefangen, haben unserer Mutter geglaubt, was alles finanziell nicht geht und natürlich hat sie uns auch dort in eine emotionale Abhängigkeit gebracht, in dem sie immer wieder gesagt hat, dass sie nicht weiter leben kann, wenn wir ausziehen. Und ein Mal in diesem Studium mit Null Einkommen und vielen Ausgaben und einem Pendlerleben, das auch noch ein Auto benötigte, schien die Abhängigkeit für die nächsten sechs Jahre vorprogrammiert – was ja dann nicht ganz funktioniert hat.

Und irgendwann habe ich ja dann rebelliert. Bin einfach in die Ferne zum Praktikum gegangen und als ich ein Mal den Fuß hier in der Tür hatte, konnte mich nichts mehr halten. Damals habe ich die Zusammenhänge noch nicht verstanden gehabt, das war einfach Intuition – heute ist mir sehr viel klarer, warum ich das Bedürfnis hatte, so weit weg zu gehen wie möglich.

Und jetzt stehe ich – da muss ich der Kollegin Recht geben – vor oder in der nächsten Abhängigkeit. Da würde mein früheres Ich, das so viel gekämpft hat, um mir das Leben zu ermöglichen, das ich heute habe, ziemlich rebellieren. Da würde ich irgendwie mich selbst verraten.

Dem Freund erkläre ich die Ausführungen am Abend noch, aber irgendwie geht er nicht so richtig darauf ein. Ich frage mich, ob er das in irgendeiner Form mal reflektiert. Was wir jetzt daraus machen, fragt er. Überlege ich mir noch, sage ich. Aber vielleicht hat da tief in mir drinnen schon etwas entschieden.

Am Ende stellen wir fest: Wir sehen uns auch morgen Abend nicht. Obwohl ich Donnerstag Spätdienst habe. Aber wir wissen beide, das hat so keinen Sinn. Und in dem Moment, in dem wir das aussprechen, überlege ich mir, dass ich – als wir uns das letzte Mal verabschiedet haben – keine Ahnung hatte, dass wir uns so lange nicht sehen würden und dass all die Pläne, wie in der Weihnachtszeit gemeinsam Plätzchen backen oder so – nichts werden. (Zunehmend wird natürlich immer klarer, dass ich Weihnachten auch wieder alleine sein werde, bestimmt oft an den Freund denke, der bei seiner Familie sein wird, aber natürlich ohne mich eben). Wahrscheinlich wollte ich das auch nicht kommen sehen. Ich hatte mich echt gefreut auf den Dezember. Denn wenn die Weihnachszeit zwischenmenschliches Zusammensein bedeutet, vielleicht wird es dann ja irgendwann mal wieder schön.
Und vielleicht sehen wir uns überhaupt nicht mehr, bevor wir unsere restlichen Sachen zurück tauschen. Und irgendwie denke ich in dem Moment an den verstorbenen Freund. Auch damals wusste ich nicht, dass das letzte Treffen eben das letzte Treffen ist. Ich denke darüber nach, wie der lebende Freund und ich sich eigentlich zuletzt verabschiedet haben und ich weiß es gar nicht mehr genau. Haben wir uns in den Arm genommen? Nochmal geküsst? Und ich verfluche mich, dass ich es nicht mehr weiß. Ich habe mir doch geschworen, mir so etwas ab jetzt immer zu merken.
Und plötzlich tut das Herz wieder so weh, dass ich das Gefühl habe, es zerbricht gleich.
Und dann denke ich an den Postboten, der ausreichend Ähnlichkeit mit dem verstorbenen Freund hat, um mich völlig zu verwirren – von dem habe ich doch kürzlich geschrieben – dem ich heute im Einkaufsladen wieder begegnet bin. Ich kam aus einem Gang heraus gefegt und er kam auch schnell um die Ecke und wir wären fast zusammen gelaufen.
Ich habe diesen Menschen hier vorher noch nie gesehen. Und manchmal in den letzten Tagen hat der ziemlich hirnrissige Gedanke meinen Kopf gestreift, dass der verstorbene Freund vielleicht getarnt durch diese Straßen läuft und auf mich aufpasst, damit ich keinen Unfug mache mit dem, was hier auf mich zukommt. Und manchmal nicht so ganz darauf aufpasst, wo er eigentlich hinläuft. Und natürlich möchte ein Teil von mir das auch glauben.
Denn irgendwie wirft mein Gehirn da auch viel durcheinander und ich spüre, wie all dieser Schmerz, all diese Ohnmacht von damals – die mit dem Heute eigentlich nicht mehr viel zu tun hat – nochmal hochkriecht in mir und es immer weniger händelbar wird.

Ich glaube, ich werde morgen früh der Frau Therapeutin eine Mail schreiben und sie fragen, ob ich auch persönlich kommen darf. Und dann muss ich mich mal gut sortieren. In mich gehen. Hinterfragen, wie akut das alles gerade wirklich ist. Aber es ist schon sehr schlimm. Erstaunlich, was alles in ein Jahr passt. Ich habe schon gedacht, das wird der schönste und positivste Jahresrückblick seit langem. Allerdings - wenn man nicht schauen würde was dazwischen war, stehe ich wahrscheinlich ungefähr dort, wo ich vor einem Jahr stand. Ich habe im Moment so oft das Gefühl, dieses Leben keine Sekunde mehr leben zu können und zu wollen. Weil ich nicht noch mehr im Leben verlieren möchte und es sich aber ständig danach anfühlt. Als würde es nur schlimmer werden. Und ich kann nicht mehr. Die Reserven sind einfach erschöpft. Absolut am Ende.
Das kann ich ihr nur nicht so sagen. Durch die Blume vielleicht, aber nicht direkt. Jedenfalls habe ich keine Ambitionen, Weihnachten und den Jahreswechsel in der Psychiatrie zu verbringen. Kurzfristig sind sichere Orte zwar immer gut, aber langfristig gibt das noch mehr Chaos und weniger Selbstbestimmtheit und das ist mir wichtig mittlerweile; zumindest mehr als das Sichersein.
Und ja, ich verfluche mich auch dafür, dass dieses nahende Beziehungsende jetzt wieder zu so viel Instabilität führt. Aber es ist halt so. Ich versuche immer alles zu geben. Aber ich bin auch nur ein fühlendes Wesen und diese Seele hat zu viele Narben, um immer überall das Gute zu sehen. Sich daran festzuhalten. Das zu können. Die letzte Rettungsplanke zu nehmen, wenn sonst gerade wieder alles unter geht und damit so lange unterwegs zu sein, bis es irgendwo wieder ein Ufer gibt. Dafür bin ich eigentlich nicht mehr bereit. Es muss irgendwann mal okay werden und bleiben. Leben kann nicht immer nur Kämpfen sein.

So – morgen soll ich erstmal auf der peripheren Station aushelfen; mal schauen was da los sein wird.
Ich hoffe, ich kann wenigstens schlafen jetzt.

Mondkind


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