Über das Fehlen

Do you remember what you wished for every Christmas?
Do you say a prayer and send it on a star?
Well, maybe I'm just being oversentimental
But now it's Christmas and I miss us most of all

(Ronan Keating – It’s only Christmas)


Das gab es schon eine Weile nicht mehr.
So ein emotionales Vollchaos. Dass es so nah dran ist, dass es bricht.
Dass ich mir nicht mehr sicher bin, ob ich das noch tragen kann.

Ich bin zu Hause dieses Wochenende. Aber nicht, weil wir beschlossen haben, dass jeder mal ein paar Dinge zu Hause zu erledigen hat, oder einfach mal in seinen vier Wänden sein möchte, sondern, weil es einfach gerade nicht geht. Weil das nicht gut wäre, wenn wir zusammen Zeit verbringen. Weil da so viele negative Gefühle sind, so viel Wut, Enttäuschung, Ärger, so viel Angst um uns, dass wir es gerade nicht zusammen aushalten.
Und während es ihm damit ganz gut geht, muss ich immer wieder darüber weinen. Ich kriege diese Emotionen einfach nicht unter einen Hut. Auf der einen Seite bin ich so wütend auf ihn, dass ich ihn einfach nur an die Wand klatschen und ihn falten könnte, was er sich dabei denkt so mit mir umzugehen. Und auf der anderen Seite vermisse ich ihn so sehr und wäre am liebsten bei ihm und dass er mich einfach in den Arm nimmt und festhält.
Aber gerade geht das nicht. Gerade können wir uns in unserem Schmerz (und ihm tut es schon auch weh, wenn auch nicht so sehr wie mir) nicht halten. Gerade muss da jeder alleine durch. Und er fehlt mir einfach. Was auch bedeutet, dass eine Trennung trotz allem eine komplette Katastrophe wäre. Und das auch noch kurz vor Weihnachten.

Es vermischt sich so viel.
Es ist nicht nur sein Fehlen. Es gibt eine Art „chronisches Fehlen“, das immer da ist. Und es ist, als würde dieses Fehlen an diesem Wochenende, dieses chronische Fehlen, das insbesondere der verstorbene Freund in mir generiert hat, aufwecken.
Es ist so viel zu viel an Fehlen, dass der Schmerz darüber kaum noch aushaltbar ist.

Und wenn der Schmerz ein Mal anfängt, dann hört er nicht mehr auf. Dann fällt auf, an wie vielen Ecken etwas fehlt. Gestern im Dienst, bin ich dem Freund meiner Schwester, der Rettungssanitäter ist, in die Arme gelaufen. Heute habe ich mit meiner Schwester telefoniert, die deshalb schon wusste, bevor ich es ihr erzählt habe, was ich für Patienten hatte. „Er sieht Dich öfter im Dienst und erzählt von Dir und dann denke ich manchmal, dass es ungerecht ist, dass er so nah an Dir dran ist und ich so weit von Dir weg bin.“ Über 600 Kilometer eben. Was ganz schön weit für einen Zwilling ist. Und klar – sie hat ihren Freund und ich bin okay damit, dass die beiden Zeit miteinander verbringen wollen. Eigentlich war die nächste Urlaubswoche mit ihr geplant, aber das war die Planung bevor sie ihn kennen gelernt hat. Jetzt werden die beiden übernächste Woche wandern fahren und wir werden uns nicht sehen. 


Gestern Nacht auf dem Heimweg... - so magisch und doch so kalt und verloren. Und eigentlich hätte ich in dieser Nacht noch los fahren sollen zum Freund. War mal so verabredet


Ich habe schon die Idee in dieser Woche, in der ich frei habe und ja nun nicht sehr viel vor habe, zurück in die alte Heimat zu fahren. Den verstorbenen Freund hat es immer in Zeiten von großer Traurigkeit zurückgezogen in den alten, sicheren Hafen und ich glaube, das ist bei mir auch so. Eigentlich wäre es mir wichtig, die Frau Therapeutin persönlich zu sehen; ich denke das wäre ihr sogar sehr recht. (Der Termin steht schon seit Wochen, dass es bis dahin so akut ist, war aber nicht der Plan). Und ich denke, dass dieser geschützte Raum der Klinik, in der das Gespräch stattfinden würde, sehr wichtig wäre, um mich darauf einzulassen. Und da die Möglichkeiten solcher professionellen Begleitung ja nun einfach sehr zusammen geschrumpft sind, sollte ich vielleicht die Möglichkeit beim Schopf packen. (am Rande bemerkt habe ich gesehen, dass der sehr geschätzte Herr Psychiater Oberarzt auf der Station geworden ist, auf der ich 2019 und 2020 war. Das hätte er sich mal ein paar Jahre eher überlegen können. Wir kamen immer recht gut miteinander zurecht und wer schon lange mitliest weiß, dass die Oberärztin und ich dort überhaupt nicht zueinanander gefunden haben). Außerdem haben schon zwei Freunde, bei denen ich vorsichtig vorgefühlt habe gesagt, dass sie sich freuen würden, wenn ich in der Stadt wäre. Und ich könnte meinem Doktorvater sein Mikroskop bringen, nach dem er gefragt hatte. (Es wären halt nur wieder Kilometer für das Auto und das darf nicht mehr so viele fahren bis zur Durchsicht, die ich eigentlich im Frühling mit dem Reifenwechsel zusammen legen wollte, weil das mit dem Job einfach so schwer ist, mal schnell das Auto in die Werkstatt zu bringen…). Und dann könnte ich auf unseren alten Spuren wandeln, auf denen des Freundes und mir, den ich gerade so, so sehr vermisse, der so sehr fehlt hier an meiner Seite.

Und dennoch versuche ich mich gerade an den guten Dingen festzuhalten.
Heute Morgen war ich spontan mit zwei Kollegen frühstücken und obwohl ich seit dem Sommer nicht viel Zeit hatte und fast hundert Prozent meiner freien Zeit in den Freund investiert habe, haben sie mich nicht vergessen und sind gestern Abend spontan zu der Idee gekommen, als die Kollegin mich ziemlich fertig im Dienst abgelöst hat und ich die psychische Verfassung nicht mehr verbergen konnte. Heute haben wir über Konzerte geredet und dass ich die eigentlich so sehr liebe. Wir hören auch alle teils recht ähnliche Musik und dann haben wir sofort mal gesucht und sind auf ein Revolverheld – Konzert im nächsten Jahr gestoßen, das bei uns an einem Freitagabend ganz in der Nähe ist. Das schafft man auch noch nach der Arbeit, dahin zu fahren. Und obwohl ich die Band ja eigentlich mit dem verstorbenen Freund sehen wollte und wir das leider nicht geschafft hatten, ist das natürlich nochmal eine spezielle Aktion, aber ich denke ich bin langsam bereit dafür und ich weiß, dass er irgendwo ganz nah bei mir und indirekt doch dabei ist.
Und die potentielle Bezugsperson hat mich kürzlich gefragt, ob ich es mir vorstellen könnte vor meinen Psychiatriejahr noch ein paar Monate auf seiner Station zu arbeiten. Jetzt weiß er natürlich, dass ich meine Arbeit recht gewissenhaft mache und das ist natürlich auch einfach eine fachliche Entscheidung, aber obwohl es zwischen uns so viele Meinungsverschiedenheiten seit dem Tod des Freundes gab und gibt, ist da wohl immer noch irgendetwas übrig. Und dafür bin ich auch dankbar.

Wie ich morgen den Dienst machen soll, weiß ich noch nicht. Vermeiden lässt es sich eh nicht. Also einen Fuß vor den anderen. Die Tage auf der Intensivstation sind hoffentlich gezählt. Und hoffen, glauben und spüren, dass da jemand ganz nah neben mir läuft. Unsichtbar, aber doch da. Vielleicht war er nie ganz weg. Vielleicht mussten sich nur unsere Seelen an seinem Grab wieder treffen, bis ich das spüren konnte.

Ich verspreche, ich gehe weiter. So schwer es auch gerade ist. Für Dich. Für mich. Für uns. Ich weiß, dass das hier eine Lage ist, in der ich früher definitiv das Helfersystem aktiviert hätte. Weil ich das Gefühl habe, ich schaffe es nicht mehr. Aber es ist nicht mehr da und ich muss es schaffen. Und vielleicht sehen Frau Therapeutin und ich sich ja wirklich demnächst. Und dann können wir an einem sicheren Ort mal auf dieses Chaos schauen. Das wäre schön.


Mondkind


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