Ein erstes Bewusstwerden

Wenn das alles vorbei ist, wenn hiervon nichts mehr steht,
wenn niemand mehr fragt, ob Kaffee oder Tee
Wenn an keiner Tür mein Name mehr klebt
Dann soll da Liebe sein, wo ich war soll dann Liebe sein
Wo wir waren soll dann Liebe sein

(Lotte – Dann soll da Liebe sein)

 

Sonntagmorgen.
Als der Freund aufgewacht ist, kommt er zu mir rüber.
Setzt sich erst zu mir aufs Bett. Streicht mir die Haare aus dem Gesicht.
Legt sich dann nochmal zu mir unter die Bettdecke. Ich spüre seine warme Hand auf meinem Bauch, die ein bisschen als ziemlich benötigte Wärmflasche fungiert.
Ich spüre ihn. Und er mich glaube ich auch. Da ist etwas. Zwischenmenschlich.
Es ist völlig verrückt. Wir tun nochmal so, als wäre nichts. Gestern Abend habe ich ewig mit dem Kopf auf seiner Brust gelegen. Nochmal ein Herz ganz nah neben mir schlagen gefühlt.
Und ich weiß, ich werde ihn bis zum Ende nicht mehr so wenig vermissen, wie jetzt aktuell. Jetzt, wo er da neben mir liegt, wo das auch ein ganz normaler Morgen innerhalb des letzten halben Jahres hätte sein können.

Wir machen Frühstück.
Er macht ein Rührei und bisher hat er immer referiert, dass sein Papa das viel besser kann und ich das Weihnachten ja werde testen können.
Ich schaue mich um. Ein Blick, den ich bald auch nicht mehr haben werde. Hinaus, auf das Wohnmobil in der Straße gegenüber, auf die Felder dahinter und auf die Baumreihe ganz am Ende. Ich schaue die Tasse an, aus der ich immer getrunken habe, wenn ich da war. Schon komisch. Dass ein Teil zu Hause einfach gehen wird. Und ich jetzt sicher auch kein Theater im Beisein des Freundes deswegen veranstalten soll.
„Was machen wir jetzt mit Weihnachten?“, fragt er in die Stille hinein. Es fühlt sich an, als würde er einen Dolch in mein Herz rammen. Ich gebe mir ein paar Sekunden Zeit. „Ich glaube nicht, dass das sehr viel Sinn hat“, sage ich. „Dass Du mitkommst?“, fragt er. Ich nicke. „Dann fahre ich allein“, sagt er. Ich nicke kaum merklich.
Weihnachten fällt dieses Jahr fast komplett auf ein Wochenende. Es ist eines der so wenigen vollständigen Wochenenden, die wir hätten zusammen verbringen können. Wenn wir es noch ein bisschen weiter geschafft hätten. Es wird hart sein, ihn so weit weg zu wissen.
„Und zum Trommeln nach Italien fahren wir dann nächstes Jahr auch nicht?“, fragt er. „Ich denke nicht, wenn es bei der Entscheidung bleibt“, entgegne ich.
Ich stelle mir unsere Beziehung als lange Straße vor. Wir haben so viel erlebt auf dieser Straße, aber es gab auch noch so viele schöne Ideen, die als Fähnchen an dieser Straße stehen und die wir zusammen nie passieren werden.

Ich erinnere mich an eine Frau beim Trommelkurs, die den Freund wohl schon länger kannte. Ich stand etwas abseits, aber in Hörweite. „Da hat sie großes Glück gehabt“, hat die Frau gesagt. Er hat gelächelt und ich habe mir gedacht „Ja, habe ich. Aber sowas von…“ Es hat ja niemand gesagt gehabt, wie lange das alles würde bleiben können.

Und irgendwie kippt es am Nachmittag dann doch noch.
Es dauert immer eine Weile, bis mir manche Dinge bewusst werden. Aber nachdem wir das letzte Mal die Sendung mit der Maus zusammen geschaut haben – sein Sonntagsritual – und es da um allerhand Weihnachtskram ging und mir wieder bewusst geworden ist, dass ich nie so ein schreckliches Weihnachten hatte, wie ich dieses Jahr haben werde, war es dann vorbei mit der Selbstbeherrschung.
Ich habe mich einfach neben ihm gelegt, den Kopf auf seinen Schoß, geweint und ziemlich hyperventiliert. Keine Ahnung, wie lange ich da so lag. Ich hab nicht viel mitbekommen. Es hat sich angefühlt, wie Sterben. Als wäre das der Moment gewesen, wo jemand dieses Herz genommen und auf den Boden geschmissen hat, ich habe fast gefühlt, wie es in hunderte Einzelteile zersprungen ist, wie es aufhören wollte zu schlagen. Er hat irgendwann die Hand auf meine Brust gelegt, vielleicht damit ich irgendwann mal wieder in einen vernünftigen Atemrhythmus komme.
Es ist der Moment, in dem mir bewusst wurde, dass ich nicht nur die Vergangenheit verabschiede, weil das alles nicht mehr wiederholbar ist, sondern auch unsere Zukunft, die es nie geben wird und das Leben an sich. Wir hören von Lotte „Dann soll da Liebe sein.“ „Und ich glaub, ich werd mich auch nie verabschieden. Wenn ich geh will ich bleiben in den Dingen, die ihr dann tut“, singt sie. Was wahrscheinlich auf mich zutreffen wird.

Beruhigen kann ich mich an diesem Abend nicht mehr.
Ich spüre nur, wie alles immer weiter in mir zusammen fällt. In Rekordschnelle. Wenn die Vergangenheit nicht mehr wiederholbar ist und die Zukunft das hier ist, das ich schon kenne, dann mag ich nicht mehr. Ich habe zu viel Schmerz erlebt in all den Jahren, insbesondere in den beiden Jahren bevor ich den Freund kennen gelernt habe. Ich werde das nicht nochmal machen. Auf keinen Fall.
Und was fehlen wird, wird nicht nur der Freund an sich sein. Der natürlich auch. Ich glaube – auch wenn das unfair dem verstorbenen Freund gegenüber ist – ich habe nie in meinem knapp 30 Jahren einen Menschen mehr geliebt, als ihn. Und ich bin mir sehr sicher, dass mir das auch nicht mehr passieren wird, auch wenn ich es überleben würde. Das ist eine Liebe, bei der man irgendwie von Anfang an weiß, dass es das nur ein Mal im Leben gibt.
Ich denk an das, was der Freund und ich vor langer Zeit mal besprochen haben. Dass es doch ein Wunder ist, wenn sich zwei Menschen treffen, sich ineinander verlieben und sich gegenseitig in ihrem Leben haben wollen. Gemeinsam in die gleiche Richtung schauen. Und so falsch war es nicht. Wir wollen beide ein kleines zu Hause, eine kleine Familie gründen – nur das mit dem Zeitpunkt ist eben so die Frage. Vielleicht hätte ich einlenken sollen, es etwas eher zu tun. Denn jetzt werde ich es nie erlebt haben. Diese Zukunftsperspektive  fehlt eben auch ab heute Abend. Ich habe nicht vor mein Leben in diesem Job zu verbringen und alleine alt und einsam zu werden. Das mache ich nicht mit. Und ich glaube, das mit der Sexualität hätten wir lösen können. Wirklich, Frau Therapeutin hat da viel Mut gemacht und ich habe ihr so sehr vertraut, dass dieses Konzept auch den Freund überzeugt. Wenn es uns beiden wichtig ist, wenn wir beide dran hängen, dann muss da ein Weg sein, wenn eben auch mit etwas Nachhilfe. Es ist ja nicht so, als hätte ich mich gegen alles vollkommen gesperrt. Ich habe versucht zu geben, was ich kann und ich bin ja auch nicht umsonst nochmal in die Studienstadt gefahren. (Ich bin jetzt froh, dass ich es gemacht habe. Dass ich alles versucht habe, das irgendwie möglich war).
Und jetzt war es eben so, dass ich ihn so gern in meinem Leben gehabt hätte, aber er mich eben nicht. Obwohl er so oft gesagt hat, dass er sich für mich entschieden hat und dabei bleiben wird.. Ich war wirklich nicht so darauf vorbereitet, dass das dieses Wochenende endet.

Später kommen wir nochmal auf Weihnachten zu sprechen.
Und mir wird zunehmend klar, dass es wahrscheinlich meine Lebensversicherung sein wird, wenn ich Weihnachten mit ihm zu seinen Eltern fahre – auch wenn ich nicht weiß, ob ich in diesen fünf Tagen irgendetwas anderes tun werden, als weinen. Wenn ich es überhaupt bis dahin schaffe; aktuell ist das so unaushaltbar. Aber das verschiebt das alles nur. Je weiter der Abend voran schreitet, desto klarer wird mir, dass ich den Jahreswechsel nicht mehr erleben werde. Ich habe keine Kraft mehr. Für die Wiederholung des immer Gleichen.
Er gibt mir bis morgen Zeit, das zu entscheiden.

Als wir am Auto stehen, gibt es noch einen Abschiedskuss. Ich hab’s mir still sehr gewünscht, aber ihn nicht drum gefragt. Nur scheinbar hat er es sich auch gewünscht.
Ich verstehe das alles nicht. Das geht nicht in mein Hirn rein.
Warum kann das kein Alptraum sein, aus dem ich wieder aufwache?
Und während ich kaum die Straße sehe, düse ich heim. 


It was only just a dream... 😢



Ich denke an die Sternstunden von dem, was wir waren.
Ich denke an diesen ersten Tag, den wir gemeinsam verbracht haben. An seinen Puls, der doppelt so schnell war, wie der Ruhepuls. An meinen Herzschlag, den man noch am Handgelenk gesehen hat.
Ich denk an den Abend, an dem wir beschlossen haben, dass wir ab jetzt ein Paar sind. An den nächsten Morgen, an dem ich ihn zur Bahn gebracht habe, weil er dann erstmal nach Italien gefahren ist. Ich habe ihn sehr vermisst in diesen zwei Wochen.
Ich denke daran, dass er mir das Leben gezeigt hat, mir klar gemacht hat, dass diese Welt wirklich bunt ist, dass sie so viele Möglichkeiten bereit hält, so viele Überraschungen, dass es sich lohnt sich auf jeden Tag zu freuen und die schwierigen Momente dazwischen als notwendiges Übel zu betrachten. Ich denke an Tage, an denen ich es abends kaum bis zum nächsten Morgen abwarten konnte, ich denke an so viel Übermut im Herzen, ich denke an eine Mondkind, die so tatendurstig war, die weit in die Zukunft geplant hat, weil sie geglaubt hat, dass es die gibt. Ich denke an eine Mondkind, die im Sommer geglaubt hat, dass wir heiraten und Kinder bekommen werden, dass wir zu Hause erschaffen werden für uns und unseren Nachwuchs. Ich denke daran, dass  wir irgendwann mal herumgealbert haben, dass wir mal gemeinsam eine Praxis aufmachen; ich die Ärztin, er der Therapeut, das könnte gut laufen und wir könnten uns unsere Arbeitszeiten besser einteilen; vorbei wäre die Zeit der modernen Versklavung im Krankenhaus. Ich denk daran, dass wir beschlossen hatten, dass ich das Psychiatriejahr über bei ihm wohne, weil es fahrtechnisch einfach besser funktioniert und ich es kaum abwarten konnte, das zu machen.
Ich denk an unsere Fahrradtouren, an diese eine, die uns über steile Kiesabhänge geführt hat und bei der ich mehr als ein Mal Angst hatte, mit seinem Rad einfach weg zu rutschen und zu stürzen. Am Ende kamen wir an einem Fluss raus, dort lagen ein paar kleine Felsen im Wasser auf die wir geklettert sind. Und dann standen wir da, um uns herum nur Wald und Wasser und ein Angler und haben uns geküsst. Und ich musste weinen, einfach weil es so schön war. Ich erinnere mich an die Radtour in den Kurpark einer nahe gelegenen Kurstadt, wo wir in der Sonne gesessen und Kirschen gegessen haben. Und an eine der letzten, wo wir ziemlich durch Regen und Matsch gefahren sind. Und an einem Schloss waren wir mal; das war auch sehr hübsch, da wollten wir immer nochmal essen gehen und haben das nicht mehr geschafft.
Ich erinnere mich an die Geburtsstadt, durch die wir drei Tage lang Hand in Hand gelaufen sind, als ich mir so sicher war, dass diese Beziehung hält, weil ich in diesen Tagen endlich über meinen Schatten gesprungen bin und es entspannter zwischen uns wurde. Ich erinnere mich, wie wir zusammen auf dem Dampfer standen, Hand in Hand über die Dächer des Zwingers spaziert sind, wie wir über den Platz vor der katholischen Hofkirche gelaufen sind, auf dem ein Musiker in der Ecke „Let it be“ gespielt hat und ich mir dachte, jetzt wäre der richtige Zeitpunkt für eine Umarmung und einen Kuss.
Ich erinnere mich an all die Morgen, an all die halben Wochenenden - und die waren es fast immer - an denen wir morgens nebeneinander aufgewacht sind. Die Morgende, in denen wir uns stundenlang spüren durften, an denen wir nie hätten aufstehen müssen, ich erinnere mich an das Feuerwerk in meinem Körper, das er auslösen konnte, an so viel Liebe im Herz und so viel Ruhe in der Seele.

Ich erinnere mich an so viel Leben, ich erinnere mich, dass die Schwere so weit in den Hintergrund gerückt ist, ich erinnere mich, dass ich mir dachte, dass das hier der Anfang von etwas Großem ist, auf das wir später, wenn wir mal alt sind zurück blicken und unseren Kindern davon berichten können.

Und heute weiß ich, dass das ein letztes Aufbäumen vor dem letzten Fall war.
Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal so traurig, so verzweifelt war. Das muss nach dem Tod es Freundes gewesen sein.
Mein Hirn explodiert bald vor Schmerz und die Gedanken sind so negativ, dass ich nicht mehr weiß, wohin damit. Wie kann etwas so schnell wieder so eskalieren?

Und jetzt fragt mich nicht, wie ich morgen diesen Dienst machen soll.
Ich habe keine Ahnung. Ich weiß es einfach nicht.


Mondkind

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