Über das, was fehlen wird

Wenn du gehst
Dann lass 'n bisschen was von dir
Hier bei mir, hier bei mir
Weil ich eigentlich schon weiß
Du fehlst mir
(Johannes Oerding – Wenn Du gehst)


Dieses Lied lief 2020 im Juli auf der Geschlossenen auf Dauerschleife bei mir.
Wer weiß, vielleicht gibt es bald ein Déjà-vu. Oder so.

Ungefähr jede Stunde brauche ich Zeit für mich. Um die Tränen mal raus zu lassen, die so viel Druck machen, dass ich kaum noch ruhig am Tisch sitzen kann.

Heute Nacht. Der Freund schläft neben mir. Die letzte Nacht. Ich höre ihn ruhig atmen. Er liegt auf dem Rücken und ich traue mich kaum, mich zu bewegen, um ihn nicht zu wecken.

Ich denke nach. Über das, was fehlen wird.
Wir werden uns nie wieder im Arm halten. Es wird fehlen, dass die Woche zu Ende geht. Dass Freitag wird. Dass ich nach der Arbeit schnell nach Hause fahre. Meine Sachen in die Tasche schmeiße. Es wird fehlen, dass jemand darum bittet Brötchen mitzubringen und – wenn möglich – noch ein Stück Kuchen. Ich kenne seinen Lieblingskuchen und wenn es den nicht gibt, dann weiß ich, welchen ich alternativ mitbringen kann, der ihm auch schmecken wird. Es wird fehlen, die Straßen in die Nachbarstadt entlang zu düsen, sich über die LKWs auf den Straßen zu ärgern, weil es meine Ankunft noch weiter verzögert. Es wird fehlen, dass ich bei meiner Ankunft erstmal die Tasche abstelle und wir uns dann im Flur ewig in den Armen halten. Dass einer von uns beiden Brillenschlagen seine Brille abnimmt, weil es mit zwei Brillen ungemütlich wird, um den ersten Kuss auszutauschen. Sein Geruch in meiner Nase wird mir fehlen, seine Hände auf meinem Rücken. Das gemeinsame Abendessen wird fehlen. So simple Dinge, die ich mir nach dem Tod des Freundes gewünscht habe. Einfach mal nicht alleine essen zu müssen, habe ich irgendwann mal dem Seelsorger gesagt.
Es wird fehlen, dass er mich irgendwann nochmal fragt, ob er mich ausziehen darf, dass wir unsere Körper mal ohne Stoff dazwischen fühlen. Ich glaube, das hat es das letzte Mal Anfang November gegeben. Eines der wenigen Dinge von denen nicht klar war, dass es das letzte Mal ist. Es fehlt, dass er meinen Körper berührt und ein Feuerwerk von Emotionen auslöst. Es wird fehlen, dass er abends neben mir liegt, bis ich schon im Halbschlaf bin, dann die Kerzen auspustet und sich leise raus schleicht in sein eigenes Bett. Es wird fehlen, dass er morgens wieder zu mir rein schleicht, die Kerzen wieder anzündet, zu mir unter die Bettdecke kriecht und wir langsam gemeinsam wach werden. Es wird fehlen, dass wir in der Küche stehen und gemeinsam Obstsalat schnibbeln – meist war ich so müde, dass ich sitzen musste und noch nicht so lange stehen konnte nach einer anstrengenden Dienstwoche. Alleine frühstücke ich am Wochenende meist einfach nicht – weil es alleine eben doof ist. Es wird fehlen, dass er – während  wir auf das  Toast warten – mich einfach von hinten in den Arm nimmt, während wir in der Küche stehen.
Es wird fehlen, dass ein Wochenende eben ein Wochenende ist – egal ob kurz, oder lang. Dass es Ruhe zwischen den anstrengenden Arbeitstagen ist. Gefüllt mit wunderbaren Dingen. Im Sommer werden die Fahrradtouren fehlen. So oft bin ich hinter ihm her gefahren, weil er den Weg kannte und habe mir gedacht wie verrückt das ist, dass das jetzt mein Leben ist und er der Mann in meinem Leben. Was für ein Wunder das ist, dass ich das nochmal erleben darf. Es wird fehlen, dass wir abends in einem Restaurant sitzen – wir waren oft essen, weil wir beide ein bisschen kochfaul sind. Ich habe es geliebt mit ihm durch den Kurpark der Nachbarstadt zu spazieren. Ein Ort, der mich in so vielen Lebenslagen gesehen hat, aber am Ende, am Finale, ist es eben doch gut geworden, habe ich mir immer gedacht und oft an das Lied „Wunderfinder“ von Alexa Feser gedacht. Ich hatte mein Wunder gefunden. Wie oft habe ich mir vorgestellt die Mondkind von Ende 2021 in den Arm zu nehmen und ihr zu sagen: „Es wird alles okay. Vertrau mir wirklich, es wird gut.“ Hätte die Mondkind von Mitte 2022 die Mondkind von Ende 2022 gesehen…
Es wird fehlen, dass wir gemeinsam irgendwo hin fahren. Obwohl unsere erste gemeinsame Reise so dramatisch war, weil wir zu seinem Institut fahren mussten und ich da wirklich vor Sorge um ihn und was die mit ihm dort jetzt machen wirklich sehr gelitten habe (ich glaube, ich hatte selten so viel Angst wie in diesen anderthalb Stunden), war es eine wunderschöne Fahrt. Und selbst die Dinge, die wir nicht gemacht haben, werden fehlen. Die Fahrt nach Italien zum Beispiel. Wahrscheinlich kann ich mir wenig vorstellen, das romantischer ist, als abends gemeinsam am Meer zu stehen, in einem Ohr das Wellenrauschen im anderen Ohr das Pulsieren der Städte am Meer und zu wissen: Hier bin ich sicher, hier bin ich angekommen, jetzt und im Leben.

Zusammen gefasst wird der Sinn fehlen.
Alles das, was das Leben so okay gemacht hat. Was für all die anstrengenden Dienste entschädigt hat, auch mit Blick darauf, dass wir irgendwann mal eine Familie ernähren müssen und es nicht schlecht ist, wenn zumindest einer von uns beiden ein bisschen Puffer auf dem Konto hat. Wenn es Sinn macht, dann kann ich in diesem Job auch leiden. 


Die Nachbarstadt. An diesem Brunnen bin ich jedes Mal auf dem Weg zum Freund vorbei gefahren und jedes Mal an genau dieser Stelle habe ich immer das Wunder gefühlt, das dieser Sommer war.



Ich habe ihn gestern Abend ein letztes Mal gefragt. Ob er das richtig findet, dass sich unsere Wege trennen. Findet er richtig, sagte er. Für den Moment sei kein gemeinsamer, weiterer Weg vorstellbar.
„Aber ich verstehe das immer noch nicht.“
„Was verstehst Du nicht?“
„Wie man jemanden weg schicken kann, von dem man doch sagt, dass man ihn liebt.“
„Manchmal ist das sogar notwendig.“
„Manchmal glaube ich, ich bin nicht hart genug für die Welt.“
„Du bist zu hart für die Welt.“
„Wieso?“
„Nur was hart ist, bricht.“

Der Kopf hat sich langsam eingedreht.
Ich weiß nicht mal, ob das Sinn hat, morgen mit dem Oberarzt zu reden. Denn was soll das werden? Ein Tanzen umeinander. Ich versuche etwas zu sagen ohne zu sagen, was los ist. Das ist für beide Seiten frustrierend. Und was sollen die Menschen jetzt machen? Auch der Herr Oberarzt sagte, dass ich jetzt angreifen soll, wie er es formulierte. Aktive Partnersuche betreiben. Und genau das kann ich gerade nicht hören. Ich will nicht irgendwen, nur um einen Partner zu haben.

Viel eher denke ich, dass mich alle Menschen aktiv aus ihrem Leben geschmissen haben.
Der Freund – das ist ziemlich offensichtlich. Ich denke, er wird heute Abend auch froh sein, wenn das Drama hier ein Ende hat. Meine Schwester hat – seitdem sie ihren Freund hat – auch keine Zeit mehr für mich. Selbst, wenn sie die 600 Kilometer in meine Stadt fährt, dort wo der Freund lebt, hat sie keine Zeit mal zum Frühstück vorbei zu kommen. Mit meiner Familie, das kann man ohnehin vergessen. Um das Grab des Freundes kümmert sich jetzt seine Mutter. Er hat sein Licht. Ich muss da nicht mehr unbedingt hin. Und die Freunde… - die meisten sind eben in der Studienstadt und klar – es vergeht immer wieder viel Zeit ohne mich und ich komme mal so rein geschneit ein oder zwei Mal im Jahr. Und ja, man freut sich, sich zu sehen und gleichzeitig sind das keine stabilen Bindungen mehr.
Insgesamt wird die Lücke, die ich hinterlassen werde, klein sein. Es kommen alle sehr gut ohne mich zurecht. Ich will einfach nicht mehr. Wirklich nicht. Ein bisschen administrativen Kram gibt es schon noch zu erledigen, aber eigentlich war ich im Juni 2020 schon mal so weit.
Es wird nur genug Menschen geben, die dann um die Ecke kommen werden und das alles als einen Akt von hochgradigen Egoismus sehen. Ohne jemals so viel Schmerz gespürt zu haben. Sich so verloren in der Welt gefühlt zu haben. Da würde ich mir manchmal echt wünschen, dass ich einfach morgens nicht mehr aufwachen würde. Einfach so. Damit genau diesen Aspekt mir niemand vorwerfen könnte. Andererseits kriege ich es auch irgendwie nicht mehr mit.

Ich weiß übrigens noch nicht, wie das heute alles laufen soll. Ich hoffe, wir kommen hier nicht super spät weg, aber mit dem allgemeinen Zeitmanagement hier werden wir sicher zu spät sein. Wenn ich um 22 Uhr im Bett liegen will, müssten wir allerspätestens 18 Uhr hier los – besser 17 Uhr. Wären wir noch ein Paar könnte man alternativ sagen, dass der Freund einfach bei mir zu Hause schläft und ich ihn morgen nach der Arbeit nach Hause bringe, er muss nämlich morgen meines Wissens nach nicht arbeiten – dann könnte er für mich auch morgen einkaufen gehen – ich muss nämlich morgen für den Dienst dringend einkaufen, egal wie es mir geht. Denn ihn auch noch abzusetzen, kostet heute echt Zeit.
Aber wir sind eben nicht mehr zusammen und von daher fällt das als Option raus, würde ich sagen.

Andererseits beginnt ab morgen ohnehin eine neue Zeit.
Vielleicht die letzten Meter, nachdem ich irgendwie auf den falschen Pfad geraten bin.

Mondkind

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